24.11.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Gekaufte Weihnachtsharmonie

Ausstellung im Mindener Museum zeigt Geschenke von 1900 bis heute

Von Dietmar Kemper
und Stefan Hörttrich (Fotos)
Minden (WB). Der Weihnachtsgruß per Post ist die kleinste Form des Geschenks. Ein paar liebe Zeilen reichen. Damit geben sich die Deutschen aber längst nicht zufrieden: Statistisch macht jeder 130 Euro für die Geschenke zum Weihnachtsfest locker.
Jungen schieben den Traktor gern durch ihr Zimmer.

Was seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute unter den Baum gelegt wird, zeigt die Ausstellung »Morgen, Kinder, wird's was geben!« im Mindener Museum. Wann wird ein Gegenstand zum Geschenk? »Wenn es in Weihnachtspapier eingewickelt wird«, antwortet Museumsleiter Martin Beutelspacher. Und warum schenken wir? »Weil wir uns der emotionalen Zuwendung des anderen versichern wollen.« Schenken geschehe nicht selbstlos, sondern in Erwartung von Gegenleistungen, zu Weihnachten in Form von Liebe und Harmonie.
Stark mit Gefühlen aufgeladen ist das Fest erst seit etwa 200 Jahren. Bis dahin wohnte den Gaben nichts Überraschendes bei, sie waren eine vorher festglegte Form der Bezahlung. Dienstboten bekamen einen Taler oder ein Paar Schuhe. Geschenke hatten praktisch zu sein, wie Winterstiefel, und entsprangen der eigenen Hände Müh. Spätestens seit dem Wirtschaftswunder in den 50er Jahren verdrängte das Gekaufte das Selbstgemachte. »Das heimliche Basteln ist verloren gegangen«, weist Beutelspacher darauf hin, dass kaum noch jemand angesichts proppevoller Spielzeuggeschäfte zur Laubsäge greift.
Selbstgemachtes geriet zum Geschenk zweiten Ranges und ist jetzt, im dritten Jahrtausend, wieder zu etwas ganz Besonderem aufgerückt. Beutelspacher erklärt das mit dem Widerspruch der Überflussgesellschaft: »Wem ich etwas selbst mache, der muss mir ganz besonders lieb sein, denn sonst könnte ich ihm das viel leichter kaufen.«
In der ersten Ausstellungsvitrine im Museum mitten in Mindens schmucker Altstadt liegen Geschenke aus der Zeit um 1900: eine Laterna Magica, Schlittschuhe, eine Modellbahn aus dem Erzgebirge und ein Steinbaukasten. »Die wurden in riesiger Stückzahl gefertigt«, weiß Beutelspacher. Die Deutschen, ein Volk von Ingenieuren. In der Weimarer Republik marschieren Soldaten aus Blech unter dem Weihnachtsbaum auf, eine mit Esbit betriebene Dampfmaschine pfeift und die Jungen schlüpfen nach der Bescherung in Matrosenanzüge. Zwischen 1936 und 1945 dominiert politisches Spielzeug mit Soldaten und Kanonen. Das Museum zeigt ein Paar Skier aus Holz. »Die sind selten, denn die meisten wurden im Winter 1941/42 für die Front eingezogen«, erzählt Beutelspacher.
Von 1946 bis 1950 dominiert das Selbstgemachte: Munitionskisten wurden, mit oberbayerischem Dekor verziert, genauso zivilisiert wie die zu Tischdeckchen zusammengenähten Sterne auf den Uniformen von Obergefreiten. In der Wirtschaftswunderzeit bietet sich ein ganz anderes Bild. Da werden Tischtennis-Netze über Esstische gespannt, Röhrenradios aufgedreht und Kinderzimmer zu Postfilialen. »Die Kinderpost gehört zu den Dauerbrennern unter den Weihnachtsgeschenken«, weiß Museumsleiter Beutelspacher (50). Dabei handelt es sich um ein pädagogisches Geschenk, denn die Kinder sollten Ordnung üben.
In den 60er Jahren erobert Amerika Küche, Kinder- und Wohnzimmer: der »Starmix« schüttelt Milch, Mickey Mouse rührt die Herzen und Musik lässt dank Kofferradio die Füße am Baggersee wippen. Seit den 70er Jahren bekommen beide Geschlechter, was sie wirklich wollen: die Mädchen Barbie, die Jungen Fischertechnik, den Gameboy und ferngelenkte Autos. Heute schenken Erwachsene, die schon alles haben, Gutscheine, Luxus wie teure Uhren und Geschmeide oder Delikatessen wie Gänseleber- und Wildschweinpasteten. »Geschenke, die restlos entsorgt werden können, weil man sie in sich hineinstopft«, sagt Martin Beutelspacher.
70 Milliarden Euro setzt der Einzelhandel am Jahresende um. Die erkaufte Harmonie hält einen Monat. Museumsleiter Beutelspacher: »Im Januar funktionieren die Menschen besser.« Die Ausstellung im Museum an der Ritterstraße (Tel: 0571/9724010) ist bis zum 15. Januar dienstags bis freitags von 11 bis 17 Uhr sowie an den Adventswochenenden von 11 bis 18 Uhr geöffnet.

Artikel vom 24.11.2005