22.11.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Mit Beharrlichkeit zum Ziel

Angela Merkels Weg ins Kanzleramt war geprägt von Gegensätzen

Von Reinhard Brockmann
Berlin (WB). »Was sollen die Leibwächter hier, wenn Frau Merkel dann doch mutterseelenallein joggen geht?« Erstaunliches aus dem Privatleben der künftigen Kanzlerin wusste dieser Tage die »Welt« aus Hohenwalde zu berichten.
Mit Mutter Herlind Kasner Mit Ehemann Joachim Sauer
Dort im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin hat sie mit Ehemann Joachim Sauer ein Ferienhaus, das unscheinbar, fast ärmlich wirkt. Spitzdach, zwei mickrige Fenster zur Straße, keine Gardine. »Abends kann man sie in der Küche wirtschaften sehen, aber der Herr Professor sitzt immer nur am Tisch«, weiß eine Nachbarin. Im Sommer gehe Frau Merkel schon mal im See baden, erzählt ein anderer. »Früher war sie auch im Angelverein, aber jetzt kommt sie nicht mehr.«
Als Merkel vor der Bundestagswahl dem ZDF sagte, warum sie keine Kinder hat, und über ihre Zeit in der FDJ sprach, war das eine Sensation. »Ich hadere nicht«, sagte Merkel zu ihrem Leben ohne leibliche Kinder. »Der Verlauf des Lebens« habe das nicht ermöglicht. Dabei hat sie durchaus »Familie«. Mehr als sie bestehen der Ehemann und dessen zwei Söhne auf Medien-Abstinenz. Stiefsohn Daniel ist ambitionierter Fotograf. Zwei Bilder zieren Merkels CDU-Büro. »Die Fotos zeigen schon sein Talent«, erklärte Merkel dem ZDF - nicht ohne Mutterstolz.
»Ich war gerne in der FDJ«, sagte Angela Merkel 1991 im Interview mit Günter Gaus - und dann wohl nie wieder. Fast jeder war in der DDR Mitglied der »Freien Deutschen Jugend«, aber nur wenige auch noch als Doktoranden. Und obwohl die Tochter einer Pastors, der 1954 den Pfarrdienst im Sozialismus wählte, nie SED-Mitglied wurde, trat sie in den 80er Jahren sogar in die FDJ-Leitung ihres Instituts ein.
Nichts verbindet Merkels abgeschlossene Forscherwelt in Adlershof, wo sie chemisch-physikalischen Grundlagen nachging, mit den Neubauten der Macht von heute. Größer könnten die Gegensätze nicht sein, zwischen einer Jugend im per se systemfeindlichen Pfarrhaus und dem Amt als erste Kanzlerin der Republik.
Angela Merkels Vater Horst Kasner lehnt bis heute Bewertungen des Weges seiner Tochter ab, die Mutter, in den 90ern SPD-Stadträtin, zeigte sich einmal bei einer CDU-Wahlveranstaltung mit der Tochter in Templin. Fast konsequent: Die CDU war dort nicht sonderlich erfolgreich.
Ob Merkel lächeln, gar winken wird, wenn sie zur Bundeskanzlerin gewählt ist? Niemand weiß es. Politische Korrespondenten werden in der Frage nach den Emotionen der CDU-Chefin fast zu Hofberichterstattern. Wie ihre Kollegen an den europäischen Königshäusern haben sie auf diesem Gebiet nichts zu melden, außer dem beobachtbaren Verhalten. Dabei kann sie unverkrampft fröhlich sein, Witze erzählen und herzlich lachen. Tausende klopften sich auf die Schenkel, als sie etwa im Wahlkampf die Story von Hans-Christian Ströbeles geklautem Fahrrad unter den Augen der Reichstagskameras zu Besten gab.
Vor der Lockerheit aber steht der Ballast einer Jugend in der DDR, wo erst nach der Schule bei Muttern von der Seele geredet wurde, was angreifbar machte. Misstrauen, mehr als jedem Berufspolitiker mit West-Karriere zu Eigen, bestimmt heute noch das Verhalten.
Längst eine Schlüsselszene ist die Frage der Journalistin vom »Telegraph«, als Anfang Oktober Schröder endlich losließ: Was sie empfinde, endlich Kanzlerin sein zu können. »Erstens: Es geht mir gut. Zweitens liegt sehr viel Arbeit vor uns«.
Das ist Merkel pur: Kaum ein Zugeständnis an die unbefangene Neugier der Westler. Norbert Blüm schlug 1992 beim bunten Abend eines Parteitags in Düsseldorf ein Rad. In seinem Schlepptau gesellte sich die damalige Frauenministerin Merkel zu westfälischen Landfrauen. Das graue Knitterkostüm wurde flüsternd als »aus der Brockensammlung« taxiert. Mühsam kam ein Gespräch in Gang. Mehr Annäherung war noch nicht.
Beharrlichkeit und Vorsicht haben sie vorangebracht. Die Physikerin musste immer kämpfen - ganz besonders in den Wochen seit der zugleich gewonnenen wie auch unentschiedenen Bundestagswahl. Es ging um ihre Position in der CDU, die SPD fuhr die Kampagne »die kann es nicht« und erklärte die CSU zur dritten Partei. Schröders unausgesprochene Demütigung »Ich gehe nur, wenn die die auch geht«, hat Merkel bis heute nicht thematisiert.
Der Spagat zwischen Privat und Amt, zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird bleiben - so wie sie ihre Berliner Wohnung nahe der Humboldt-Universität, dem Arbeitsplatz ihres Ehemanns, behält. Ein Umzug in das weiße Haus einige hundert Meter weiter westlich kommt nicht infrage.

Artikel vom 22.11.2005