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Michael Schindhelm

»Der Untergang der DDR hat für Angela Merkel alles Politische relativiert.«

Leitartikel
Merkel will dienen

Ohne Pomp ins hohe
harte Amt


Von Reinhard Brockmann
Dem milliardsten Teil einer milliardstel Sekunde widmete Angela Merkel sieben ihrer zwölf Jahre als Wissenschaftlerin. Von heute an hat sie vielleicht zwei Jahre Zeit, die meisten meinen vier, der Autor hält sogar noch mehr Jahre für möglich. Die Aufgabe: Deutschland mit einer großen Koalition wieder ins Lot bringen.
Nichts für Basta- oder »Hoppla, jetzt komme ich«-Typen. Aber Merkel, die beharrliche, mitnichten schwache, die misstrauische, aber keinesfalls linkische und vor allem kluge Hamburgerin aus dem Osten hat das Zeug dazu.
Als erste Frau an der Spitze der Republik muss sie korrigieren, was Helmut Kohl und Gerhard Schröder aus dem Ruder laufen ließen. Deutschland steckt in seiner tiefsten Krise seit jener Zeit, als das Wort »Wirtschaftswunder« noch unbekannt war. Die Zeichen stehen schlecht, dass ausgerechnet diese Koalition der tausend Kompromisse auf niedrigstem Niveau Konrad Adenauers und Ludwig Erhards Meisterleitung neu auflegen kann. Das sagt der den Deutschen tief unter der Haut sitzende Pessimismus. Die seit Helmut Schmidt anziehende Arbeitslosigkeit, das stete Versagen staatlicher Konjunkturprogramme und die seitdem durchlebten Öl- und Preiskrisen nähren das Gefühl staatlicher Ohnmacht.
Aber was ist dagegen der demokratische Aufbruch, der Merkel mit 35 Jahre ereilte? Westdeutsche sind kaum in der Lage, die Bedeutung der Erschütterung eines gottgleich erlebten Regimes zu erkennen. Laut Michael Schindhelm, Merkels enger Wegbegleiter in akademischen Jahren, hat der Untergang der DDR für sie alles »Politische relativiert, die Autorität in Frage gestellt«.
Nichts ist unmöglich: Intensiver, als dieser gar nicht mal unintelligente Werbespruch nahelegt, muss Merkel heute ihren eigenen Weg an die Macht empfinden.
Deutschland vertraut sich ihr an, sie stellt sich zur Verfügung. »Ich will Deutschland dienen«, hat sie gesagt, damit mehr als einen Wahlkampfschlager angestimmt und Erwartungen an alle gestellt.
Es ist keine Liebesheirat, nicht mit der SPD und schon gar nicht mit »den« Deutschen. Denn diese Regierung lehrt Heulen und Zähneknirschen. Zugleich will sie trotz leerer Kassen ein Füllhorn von Ideen und Initiativen ausschütten. Vor allem aber wird sie sich auf deutlich mehr Demos von Besitzstandsverlierern einrichten müssen, als das Jahr Montage hat.
Merkel geht einen schweren Weg, aber das hat sie immer getan. Völlig unangefochten ist sie fast nie gewesen. Niemals konnte sie auch in den letzten Wochen sicher sein, dass nicht neuer interner Widerstand keimt. Edmund Stoiber hat sich dabei gottlob selbst neutralisiert. Der Rücktritt von SPD-Chef Müntefering schien dagegen zeitweise drastisch genug, um die Statik der neuen Beziehung zu überlasten. Merkel ist vorgewarnt.
Ohne Pomp tritt sie das höchste und härteste Amt an, das sich ein aktiver Politiker vorstellen kann. Ein schlichtes Zeichen, ein gutes Omen für Deutschland.

Artikel vom 22.11.2005