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Lebensläufe bringen NS-Zeit näher

Zeitzeugen erzählen - Gedenkstätten bauen gemeinsames Netzwerk auf

Von Dietmar Kemper
Münster (WB). Zum ersten Mal in Deutschland versuchen die NS-Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen die Zeit zwischen 1933 und 1945 in Form von Lebensläufen zu erzählen. Die Gedenkstätten in Münster, Bonn, Siegen, Düsseldorf und Köln haben das »Lebensgeschichtliche Netz« aufgebaut. Es kann im Internet von Wissenschaftlern, Hobbyforschern und Schulen jederzeit erweitert werden.
Auch die Dokumentationsstätte von Werner Busch würde gern etwas zum Projekt beitragen.

»Unser Anliegen ist es, die NS-Zeit an einzelnen Schicksalen auf Täter- und Opferseite fassbar zu machen«, sagte Stefan Querl dieser Zeitung. Querl gehört dem Arbeitskreis der 24 Gedenkstätten zwischen Rhein und Weser an und forscht in der Villa ten Hompel der Stadt Münster. Von dort aus wurden während des Zweiten Weltkriegs die »Bataillone« koordiniert, die in den Ostgebieten Erschießungen durchführten.
In der Internet-Datenbank, die bereits mit 24 Lebensgeschichten gefüllt ist, wird zwischen Gut und Böse nicht unterschieden. Die Biographie eines fanatischen Hitlerjungen in Köln werde dem Schicksal einer jüdischen Schülerin in Siegen gegenübergestellt, die katholische Professorenfrau in Bonn dem Gauleiter von Düsseldorf. Das »Lebensgeschichtliche Netz« erlaube regionalgeschichtliche Forschung und Laien einen schnellen Zugang zum dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. Lexikalische Artikel informierten etwa darüber, was Deportation bedeutete.
Das Internet-Portal sei als »interaktives Medium« konzipiert, erläutert Querl. Jede Gedenkstätte verfüge über die Zugangssoftware und stelle sie Schulen zur Verfügung. Die Ergebnisse von Geschichtswerkstätten oder Klassen-Projekten könnten das »Lebensgeschichtliche Netz« weiter füllen. Finanziell unterstützt wird das Projekt von der Landeszentrale für politische Bildung in Düsseldorf und dem Bundesbeauftragten für Kultur und Medien in Berlin.
Das Stalag 326 in Stukenbrock-Senne (Kreis Gütersloh), das das Schicksal der russischen Kriegsgefangenen aufarbeitet, beteiligt sich noch nicht am »Lebensgeschichtlichen Netz«. Die personelle Ausstattung erlaube keine zusätzlichen Aufgaben, sagte der Gründer der Dokumentationsstätte, Werner Busch. Das Stalag 326 verfüge nur über eine halbe feste Stelle. Der pädagogische Mitarbeiter Dr. Reinhard Otto werde von drei Ehrenamtlichen unterstützt. Bei der Identifizierung der russischen Soldaten, die durch das Stalag geschleust wurden oder darin umkamen, kommen Busch und seine Mitstreiter voran: Die Namen von 60 000 der etwa 320 000 Soldaten seien inzwischen bekannt. Bis 2010 würden vermutlich 200 000 Gefangene erfasst sein.
Der Bericht eines russischen Lagerarztes würde gut ins »Lebensgeschichtliche Netz« passen. »Wir verfolgen das Ziel, auch die kleinen Gedenkstätten mit einzubinden«, betonte Querl.
                www.lebensgeschichten.net

Artikel vom 19.11.2005