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Eine gemalte Biografie in Selbstbildnissen

Kunsthalle: Ernst Ludwig Kirchner und die »Brücke«

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Vor 100 Jahren gründeten Ernst Ludwig Kirchner und vier seiner Kommilitonen die Künstlergemeinschaft die »Brücke«. Die Kunsthalle Bielefeld nimmt den Jahrestag zum Anlass, die Akteure in Selbstbildnissen und Künstlerbildnissen in Szene zu setzen.

Kuratorin Jutta Hülsewig-Johnen hat bewusst auf eine umfassende Werkschau verzichtet, sondern lenkt mit einer Themenschau den Blick auf das Portrait als zentrales Thema des Expressionismus schlechthin. Frei von akademischen Posen, ging es den Künstlerkollegen Ernst Ludwig Kirchner, Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff um die unverstellte Darstellung des Menschen. 1906 traten Emil Nolde und Max Pechstein der Vereinigung bei, 1910 Otto Mueller. In den acht Jahren ihrer intensiven Zusammenarbeit wurde die Brücke zum Inbegriff des norddeutschen Expressionismus.
Mit dem Portrait des jungen Schmidt-Rottluff in glühenden Farben entfachte Emil Nolde 1906 den Farbensturm, der den jüngeren Künstlern zum Vorbild wird. Es beginnt ein Reigen von Selbstdarstellungen und Portraits der Freunde in unterschiedlichen Techniken, Posen und Darstellungsweisen, der die stilistische Entwicklung der Brücke-Kunst reflektiert. Bei der künstlerischen Formulierung ihres neuen Menschenbildes stehen sich die Künstler häufig selbst Modell. Die enge Verbindung manifestiert sich in zahlreichen Werken, die von zeitweilig großer Nähe und Intimität zeugen.
Eine besondere Rolle nimmt in diesem Zusammenhang Ernst Ludwig Kirchner ein, der sich über die Jahre hinweg und auch nach der Auflösung der Künstlergruppe mit dem Selbstbildnis beschäftigt. Weil er mit forschendem, oftmals rücksichtslosen Blick in der Selbstbetrachtung nicht nachgelassen hat, steht Kirchner im Zentrum der Ausstellung. In einer Vielzahl von oft skizzenhaft hingeworfenen Zeichnungen, Druckgraphiken und monumentalen Gemälden formuliert der Künstler sein Selbstbild immer wieder neu und spürt lebenslang seinen Befindlichkeiten nach. Depression, Alkohol- und Morphiumkonsum des Künstlers forderten ihren Tribut und spiegeln sich ungeschönt und bis zur Selbstauflösung im Selbstportrait wider. Es gehört zu den Stärken der Schau, dass sie erstmals Kirchners »gemalte Biografie«, dieses schonungslos erschütternde Psychogramm seines Lebens, in einem umfassenden Überblick zugänglich macht.
Daneben steht das Verhältnis Kirchners zu seinen Musen und Künstlerkollegen im Mittelpunkt. »Eines der beeindruckendsten Brücke-Bildnisse, Kirchners monumentales Gruppenportrait, das zwanzig Jahre nach Gründung der Gemeinschaft in der Schweiz gemalt worden ist, kann als eine Abrechnung mit den früheren Freunden gelesen werden«, schreibt Kunsthallenleiter Thomas Kellein im Vorwort zum Katalog, der zur Ausstellung erschienen ist und der in kunsthistorischen Beiträgen auf knapp 200 Seiten ein umfassendes Bild der Künstler, ihres Selbstverständnisses sowie der Kunstepoche des Expressionismus zeichnet.

Artikel vom 18.11.2005