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Vom Abenteuer Autofahren in China
Die Eigenarten des Individualverkehrs im Reich der Mitte - Fahrzeugdichte nimmt trotz der Kosten explosionsartig zu
Herr Wu fährt ohne Licht. Zwar verfügt er über einen recht modernen Drahtesel, der neben einer Klingel auch mit zwei Lampen ausgestattet ist. Doch die neueste Verkehrsregel in China besagt: Radfahrer dürfen kein Licht einschalten, der tänzelnde Schein könnte nämlich die Autofahrer verwirren. War das Reich der Mitte bislang eher eine Nation von Radfahrern, so hat sich das Bild binnen einer Dekade total gewandelt.
Noch vor zehn Jahren waren auf Chinas Straßen nur wenige Personenwagen zu sehen. Dafür verstopften endlose Kolonnen rußender Lastwagen die Verbindungen zum Beispiel zwischen Kanton, Shenzhen und Hongkong.
Jetzt setzt Chinas Automobilproduktion zum Sprung nach Europa an. Zugleich können sich auch immer mehr Chinesen einen Wagen leisten. Das kurbelt den Rohölbedarf kräftig an - und das führt, insbesondere in Großstädten, zum perfekten Chaos.
Privatpersonen dürfen nämlich erst seit vier Jahren überhaupt den Führerschein machen. Deshalb gibt es viel zu wenig Fahrlehrer, um das rapide steigende Interesse zu befriedigen. So fährt manch ungeschultes »Talent« besser Auto als ein schlecht ausgebildeter Fahranfänger. Und so liefern sich Fußgänger, Radfahrer, Tuktuk-Lenker, Brummi-, Bus- und Pkw-Fahrer geradezu atemberaubende Machtkämpfe auf den Straßen - atemberaubend nicht zuletzt auch wegen der chronisch verpesteten Luft.
Fußgänger werden als schwächstes Glied der Kette gnadenlos untergebuttert, deshalb gesteht man ihnen als neueste Erungenschaft an einigen Großstadtkreuzungen Ampeln zu, die Grün auf Tastendruck liefern. Eine andere Lösung sind Brücken - denn Unterführungen mögen die Cinesen überhaupt nicht. Viele Straßen sind übrigens in der Mitte durch Zäune geteilt, um Fußgänger vom Überqueren und den rollenden Verkehr vom Wenden oder Linksabbiegen abzuhalten. Einige Großstädte wie Peking, Wuhan oder Chongqing verfügen inzwischen über S- und U-Bahnen.
Wer sich in China ein Auto gekauft hat, muss noch ein zusätzliches erkleckliches Sümmchen fürs Nummernschild bezahlen. Und da darf man nicht zu kleinlich sein, denn am Anfangsbuchstaben zeigt sich, in welche »Klasse« der Fahrer gehört. Ein A oder C zeigt an, dass das Auto über eine Firma angemeldet wurde - die preiswerteste Alternative. Firmen bilden in der chinesischen Gesellschaft eine Danwei, die unterste Kontrollebene des allmächtigen Parteiapparates.
Ein Chinese ist in erster Linie Mitglied einer Danwei und erst dann ein Pekinger, ein Staatsbürger oder gar ein Individuum. A und C sparen sowohl Steuern als auch Anmeldegebühren. B ist für die Taxis reserviert.
In Peking sind schon etwa zehn Prozent der Fahrer Privatunternehmer mit eigenem Auto. Die Preise sind für West-Ausländer moderat: Zehn Yuan, etwa einen Euro, beträgt die Grundgebühr, für 80 Yuan durchquert man die riesige Stadt vollends. Taxifahren ist also billig und notwendig, denn Touristen dürfen sich keinen Wagen mieten und selbst fahren.
Aber selbst bei gut organisierten Gruppenreisen, wie sie zum Beispiel Studiosus veranstaltet, bleibt genügend Zeit für individuelle Exkursionen per Taxi. Zwar sind die Straßenschilder auch englisch beschriftet, doch innerhalb der Städte gibt es keinerlei Hinweise auf Ausfallstraßen.
Privat als Statussymbol zugelassene Fahrzeuge tragen die Buchstaben D bis J. Ein »O« hingegen steht nur der Polizei oder ihr nahestehenden Personen zu und »berechtigt« zu Verkehrsregelverstößen jeglicher Art. Da beinahe alle Symbole der Macht aber käuflich sind, ist eine solche Nummer gegen Zahlung von etwa 10 000 Euro durchaus erhältlich. Will man dann noch bestimmte Glück bringende Zahlenkombinationen haben (beliebt ist die Reichtum verheißende 8), summiert sich die Summe für ein Nummernschild schnell auf bis zu sagenhafte 50 000 Euro. Und es gibt etliche reiche Chinesen, die bereit sind, das zu bezahlen.
Gab es jahrzehntelang nur den VW Santana für Privilegierte zu kaufen, so machen sich chinesische Autofirmen nun daran, die starke Nachfrage auf dem heimischen Markt zu befriedigen. Und da wird, wie es im Reich der Mitte üblich ist, nach besten Kräften schamlos kopiert. Der Chery QQ sieht aus wie der alte Daewoo Matiz, der Chery M14 ist ein Plagiat des Peugeot 307CC, der Laibao SR-V wurde vom Honda CR-V abgekupfert. Für die Staatslimousine »Rote Fahne« bediente man sich bei keinem Geringeren als Rolls-Royce. Und auch sonst ahmt China vieles nach: Autobahnen - es gibt mittlerweile 34 000 Kilometer davon - kosten Maut. Deshalb sind sie meist leer. Riesige Knotenpunkte stehen ungenutzt in der Landschaft, in den Städten hingegen kommt es regelmäßig zum Infarkt.
Die Straßenverkehrsordnung wird selten eingehalten. Rechtsüberholen und penetrantes Linksfahren sind ebenso wie Scheuchen per Lichthupe an der Tagesordnung. In den Innenstädten sorgen gelegentlich Geisterfahrer für Chaos.
Verkehrssünder werden mit Punkten bestraft - allerdings hat jeder Autofahrer pro Jahr zwölf Punkte »Guthaben«, und natürlich wird schon fleißig (und illegal) damit gehandelt. Nur der Sprit ist vergleichsweise billig, denn Ökosteuern müssen die Chinesen nicht bezahlen, und die Preise sind staatlich kontrolliert. Allerdings kosten nicht nur Autobahnen Maut, sondern auch einige Landstraßen.
Mit knapp 40 Cent pro Liter Sprit könnte China ein Paradies für Autofahrer sein - wäre da nicht das hohe Unfallrisiko. Einen TÜV gibt es nicht. Hoffnungslos überladene Lkw fahren gerne nachts, weil die Polizisten dann schlafen. Und weil die niedrigen Deckungssummen der Versicherungen insbesondere bei Personenschäden kaum ausreichen, ist Unfallflucht eine häufig praktizierte Lösung. Es sei denn, einer der Beteiligten ist Ausländer. Der hat sowieso immer Schuld.
Öffentliche Verkehrsmittel bilden also das Rückgrat und sind die Zukunft. Peking hat bereits eine moderne U-Bahn, in Chongqing und Wuhan sind auf Stelzen trassierte S-Bahnen die schnellste Art des Vorwärtskommens. In Xi'an würde man gerne eine U-Bahn bauen, um das schöne Stadtbild nicht zu beeinträchtigen. Doch man hat Angst, im Untergrund zu buddeln - weil man mit ziemlicher Sicherheit auf historische Relikte stoßen würde. Und dann würden die Archäologen den Fortgang der Arbeiten auf Jahre aufhalten. Da fährt Herr Wu eben weiter mit dem Rad - ohne Licht... Thomas Albertsen

Artikel vom 03.12.2005