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Berliner Raumschiff - losgelöst von der Lebenswirklichkeit der Menschen

Leitartikel
Mängel im Vertrag

Familien-
fremde
Koalition


Von Jürgen Liminski
Es ist schon erschütternd, wie einmütig locker die Zustimmung in den Spitzengremien der beiden Koalitionsparteien zu dem Koalitionsvertrag ausfällt. Bei der SPD ist es nicht weiter verwunderlich, sie hat eindeutig gewonnen.
Bei der CDU allerdings fragt man sich, ob die Delegierten den Text gründlich genug gelesen haben. Vor allem bei der Familienpolitik ist von der früheren Union nicht mehr viel zu erkennen. Die Eigenheimförderung wird ersatzlos gestrichen, die Rente ist ein Selbstbetrug, die Mehrwertsteuer wird erhöht, ohne dass das Existenzminimum (bei den steuerlichen Freibeträgen) angehoben wird. Das dürfte ein juristisches Nachspiel haben, denn Hantieren mit der Mehrwertsteuer verstößt glatt gegen Beschlüsse des Verfassungsgerichts zur Berechnung des Existenzminimums. Aber das will man wohl abwarten und die Familien inzwischen bluten lassen.
Als große Errungenschaft wird solchen Einwänden das Elterngeld (eine Forderung der SPD) gegengehalten. Es ist in der Tat ein Schritt in die richtige Richtung. Aber bei näherem Hinsehen wird es ein Tippelschritt, ein Treten auf der Stelle. Es wird nämlich de facto nicht ein Jahr, sondern nur zehn Monate gewährt, wenn der zweite Elternteil seine zwei Monate nicht wahrnimmt. Was der Staat gewinnt, wenn er den Vater (das dürfte der Regelfall sein) zwei Monate in die Elternzeit zwingt und damit einen Ausfall seiner sozialpflichtigen Abgaben in Kauf nimmt, bliebe noch auszurechnen.
Kleingedruckt ist auch der Vorbehalt, dass man prüfen wolle, ob als Bemessungsgrundlage für die Höhe des Elterngeldes das frühere Gehalt des nun erziehenden Elternteils oder das gesamte Nettoeinkommen des Elternpaares herangezogen wird.
Es kann durchaus sein, dass das Elterngeld auf den Sockelbetrag des früheren Erziehungsgeldes (600 Euro) schrumpft. Man darf nun Wetten darauf abschließen, dass wegen der knappen Kassen das Gesamteinkommen herangezogen und so das Elterngeld zusammenschnurren wird.
Zum Kleingedruckten gehört auch die klammheimliche Kürzung der Bezugsdauer des Kindergeldes um glatte zwei Jahre. Das bringt dem Staat 3600 Euro pro Kind. Wird das irgendwo kompensiert? Allenfalls beim Kinderzuschlag für Geringverdiener, der aber sowieso fällig gewesen wäre, nur unter dem Etikett Sozialhilfe.
Und war da nicht noch vor ein paar Monaten im Brustton des Gutmenschen die Rede von einer Erhöhung des Kindergeldes gewesen? Offenbar eine Sinnestäuschung. Die Lebenswirklichkeit ist, dass zwei Jahre Kindergeldkürzung vor allem Studenteneltern treffen, die das Geld oft für ihre Studentenkinder verwendeten. Nun werden die meisten Studenten selber dafür arbeiten, sprich das Studium verlängern.
Auch daran sieht man, wie familienfremd und losgelöst von jedem Wirklichkeitsbezug zu den Familien die Großkoalitionäre in ihrem Berliner Raumschiff agieren.

Artikel vom 18.11.2005