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Reisen - für ein langes LebenDas Buch »Nimm mich mit...« lädt zu ruhiger Betrachtung ein - damit die Erinnerung nicht abhanden kommt
»Wer schnell fährt, wird früher sterben.« Zu dieser Erkenntnis kam bereits anno 1854 der französische Schriftsteller Jules Lèfevre-Deumier. Allerdings ereilte ihn diese Erkenntnis in einem Sinnzusammenhang, der heutige Reisende schmunzeln lässt - zunächst.
Der gute Mann konnte ja keine Angst haben, bei Tempo 180 auf der Autobahn zu straucheln. Gab's zu seiner Zeit bekanntlich ebenso wenig wie den Jetlag. Seine Gedanken gingen tiefer: »Wer schnell fährt, wird früher sterben, denn Reisen in atemberaubender Geschwindigkeit hinterlassen keine Erinnerung, mit der man seine Tage verlängern könnte.«
Atemberaubende Geschwindigkeit - das waren für Lèfevre-Deumier zu Beginn des Eisenbahnzeitalters vermutlich um die 20 Kilometer pro Stunde. Oder die Hatz mit der Postkutsche. Mit der Kunst des Reisens hatte schon das für ihn nichts mehr zu tun. Denn für ihn galt: Der Weg formt den Menschen.
Gerührt blicken wir gut 150 Jahre später Lebenden und zu Boden mindestens ebensoviele Stundenkilometer schneller Reisenden zurück. Und erkennen auf den zweiten Blick: Eigentlich lag der Mann gar nicht so falsch. Wir kommen weiter. Viel weiter. Doch was bleibt an Erinnerung von einem 20-Stunden-Flug nach Australien? Gähnende Langeweile, quälende Sitzposition. In aller Enge mit Plastikbesteck Fertigkost vertilgen. »Aber Sydney war echt klasse! Wir haben direkt an der Harbourbridge einen BigMac gegessen.« Herzlichen Glückwunsch!
Freilich, nicht überall herrschen Unverstand und Unvermögen wenn es darum geht, Reisen zu einem Gewinn an persönlicher Erfahrung zu machen. Bei einer immerhin wachsenden Anzahl fernwehkranker Zeitgenossen hat sich die Losung durchgesetzt: »Der Weg ist das Ziel!« Zumeist wandern oder radeln sie, nutzen als Motorradfahrer abseitige Straßen, die nicht einmal ein »B« auf gelbem Schilde führen - und sind begeistert: Schon vor der eigenen Haustür beginnen die Entdeckungen - man muss sich nur darauf einlassen.
Die Kunst des Reisens - im Mittelalter bestand sie vor allem daraus, sich gegen Räuber, Krankheit und Unglück zu schützen. Wer auf Reisen ging, der tat dies keineswegs freiwillig, allenfalls als Pilger. Doch vom 18. Jahrhundert an wollte man es wissen: Nicht zuletzt der Reiselust des Universalgelehrten Alexander von Humboldt (1769-1859) verdankt die Welt Beobachtungen, auf denen ein Gutteil moderner Wissenschaft fußt. Seine und die Beschreibungen anderer Weltenbummler zu lesen ist heutzutage oftmals spannender und ohnehin gewinnbringender, als den »Malle-Shuttle« zu entern für eine Woche Körper und Kopf lähmende Sonnenhitze.
Ein geistreicher, unterhaltsamer und vor allem auch lehrreicher Führer an die Quellen und in die Geschichte des Reisens in diesem Sinne ist ein Buch der französischen Kunsthistorikerin und Moderedakteurin Marie Simon: »Nimm micht mit...« ist weit mehr als nur »Eine kleine Geschichte der Reisebegleiter«, wie das vom Einband bis zur letzten Seite geschmackvoll gestaltete und reich illustrierte Lese- und Bilderbuch im Untertitel verspricht.
Simon, mit Liebe und Sprachgefühl von Angela Wagner übersetzt, fasst den Begriff der Reisebegleiter weit. Nomaden haben nun einmal andere Vorstellungen von dem, was »im Gepäck« sein sollte, als Touristen. Amerikanische Siedler auf dem Treck in den Westen andere als Erste-Klasse-Schiffsreisende, Sommer- andere als Winterreisende.
Überhaupt waren die Reisenden in Zeit und Raum niemals über einen Kamm zu scheren. Da gab es den Expeditionsleiter um 1910, der mit einer Hundertschaft von Trägern die Wüste querte und sich inmitten dieser am gedeckten Tisch bedienen ließ. Ist es da ein Fortschritt, heute als Extrembergsteiger im Biwaksack tagelang in der Felswand zu hängen und gefriergetrocknetes Kraftfutter zu konsumieren?
Reisebegleiter waren stets auch die Geräte, denen man sich anvertraute. »Das Vorwärtsfliegen ist fantastisch und so seltsam, dass es sich jeder Beschreibung entzieht«, notierte 1830 eine begeisterte frühe Bahnreisende, die britische Schauspielerin Fanny Kemble. Bei, sagen wir einmal, Tempo 20.
Zur gleichen Zeit begann die Dampfmaschine, auch die Seefahrt zu revolutionieren. Brauchten Segler bis weit ins 19. Jahrhundert hinein 30 bis 40 Tage für die Route Le Havre - New York und knapp 25 Tage zurück, so schafften Transatlantikliner unter Dampf die Strecke 1866 schon in neun Tagen, 1907 in derer fünf. Es beginnt die Jagd um das Blaue Band: Seereisen im Rausch der Geschwindigkeit. Und bald schon macht die Menschheit die Erfahrung, dass, wer schnell fährt, tatsächlich früher sterben kann: Die Unglücke der Ozeanriesen häufen sich, der Untergang der »Titanic« vom 15. April 1912 hält sich im kollektiven Gedächtnis bis heute als Mutter der Katastrophen.
Gleichwohl - und nichts anderes vermittelt das Buch - war und ist das Reisen stets eine lustvoll-aufregende Sache geblieben. In der Natur der Autorin liegt begründet, dass mehr französische Namen auftauchen, als der durchschnittliche deutsche Leser ohne Hilfe einordnen kann. Aber das sollte bei der Lektüre nicht stören. Denn Grenzen zu überschreiten und dabei auf fremde Kulturen zu treffen - genau das war ja wohl zu jeder Zeit der Grund dafür, auf Reisen zu gehen.
Ingo Steinsdörfer

Marie Simon: »Nimm mich mit ... Eine kleine Geschichte der Reisebegleiter«, 184 Seiten, 307 Farb- und 122 Schwarzweißfotos, Verlag Frederking & Thaler, 34,90 Euro.

Artikel vom 26.11.2005