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Jonathan Swift

»Die besten Ärzte
der Welt sind
Dr. Diät, Dr. Ruhe und Dr. Fröhlich.«

Leitartikel
Parteitagsschaulaufen

Hand in Hand - wohin
des Weges?


Von Rolf Dressler
»Politiker schmollen, werfen den Bettel hin, setzen sich ab gen Bayern oder sonstwohin. Kurz und gut, in der Hauptstadt regiert das Durcheinander. Ein echter Fortschritt!« So und ganz ähnlich witzelten wochenlang wonnevoll viele Pressekommentatoren.
Denn Gewählte und Abgewählte in Deutschlands Macht-Biotop Berlin gebärdeten sich wie Insassen eines »Big-Brother«-TV-Containers: Beinahe jeden Tag flog eine(r) oder etwas 'raus oder ergriff die Flucht vor der Verantwortung oder vor irgendwem oder was auch sonst.
Doch das war gestern. Heute liegen sich Schwarze und Rote zumindest im verbal-bildlichen Sinne in den Armen, herzen und kosen einander, dass nicht nur schlichte Bürgersleute den eigenen Augen und Ohren gar nicht recht trauen mögen.
Dennoch wird auch in der heutigen Presseberichterstattung über die Parteitagsschauen von CDU und SPD wohl wieder davon die Rede sein, dass »beide Lager« (!) in der künftigen großen Regierungskoalition mit Macht auf ihr spezielles politisches Profil bedacht sein werden.
Es fällt dem Volk zwar verflixt schwer, den neuen Alten »da oben« auch nur einen kleinen Vertrauensvorschuss zu geben. Trotz allem aber hat Schwarz-Rot immerhin eine Chance verdient, bevor man das Urteil über diese Koalition spricht. Darin ist Angela Merkel, der angehenden Bundeskanzlerin, zuzustimmen.
Einen kräftigen Vorgeschmack auf das, worauf Deutschlands künftige Regierungschefin sich tunlichst gefasst machen sollte, lieferte ihr frei Haus das beifallsumtoste Karlsruher Verabschiedungsspektakel für Gerhard Schröder, den Amtsvorgänger. Auto-Kanzler? Kanzler der Bosse? Medien-Kanzler? Alles Brioni-, Versace- und Armani-Schnee von vorgestern.
Seht her, wir und nur wir haben ihn, unseren Gerd! Das war die Botschaft. Also feierten sie ihren Gerhard Schröder geradezu wie einen neuzeitlichen König, als habe er Deutschland sieben glanzvolle Jahre beschert.
Das freilich ist weit, weit weg von jeder Wirklichkeit. Denn just diese sieben rot-grünen Regierungsjahre betonierten die Massenarbeitslosigkeit. Die Billionenverschuldung unseres einstigen Welt-Musterstaates galoppiert wie nie zuvor. »Pisa« stellt der hiesigen Schul- und Bildungspolitik beschämend schlechte Noten aus, und der einst hoch gerühmte Wirtschaftsstandort Deutschland wurde durchgereicht fast bis ans europäische Tabellenende.
Diese bitteren Wahrheiten und Wirklichkeiten gehen maßgeblich zu Lasten der sieben mitnichten glorreichen Kanzler-Jahre Gerhard Schröders. Das auszusprechen heißt keineswegs, unstreitige Fehler und Versäumnisse der vielkritisierten »16 Jahre Helmut Kohl« kleinzureden.
Unredlich und irreführend aber handelt, wer die rot-grüne Regierungsära Schröder grob verklärt.
Denn merke: Es gibt auch Wahrheiten, auf die man Gift nehmen kann.

Artikel vom 15.11.2005