12.11.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Das Programm:
Was die große Koalition vorhat

Mehrwertsteuer steigt 2007 auf 19 Prozent

Berlin (WB). Nach einer Marathonsitzung ist der mehr als 100-seitige Koalitionsvertrag unter Dach und Fach. Für vier Jahre soll er Grundlage für die Regierungszusammenarbeit zwischen Union und SPD sein. Am Freitagabend erläuterten die drei Parteivorsitzenden die Details der Vereinbarung. Bis zuletzt waren die Themen »Reichensteuer«, Kündigungsschutz und Atomausstieg zwischen Union und SPD noch strittig. Die Mehrwertsteuer soll 2007 nun doch von 16 auf 19 Prozent steigen. Wälzt der Handel die Erhöhung vollständig auf die Verbraucher ab, müssen die 38 Millionen Haushalte bei gleichem Kaufverhalten mit monatlichen Mehrkosten von 29 Euro rechnen.

Haushalt und Steuern

Die Sanierung des Haushalts bei gleichzeitiger Stimulierung der Wirtschaft ist das Hauptvorhaben der angestrebten großen Koalition. Nach fünfjährigem Verstoß soll Deutschland 2007 wieder die im EU-Stabilitätspakt festgelegte Neuverschuldungsgrenze einhalten. Dazu muss eine Lücke von mindestens 35 Milliarden Euro gestopft werden. Das Geld kommt aus Ausgabenkürzungen und der zum 1. Januar 2007 beschlossenen Anhebung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent. Der ermäßigte Mehrwertsteuersatz für bestimmte Güter soll bei sieben Prozent bleiben.
Topverdiener müssen von 2007 an eine »Reichensteuer« zahlen. Der Steuerzuschlag beträgt drei Prozent und beginnt bei Einkommen von 250 000 Euro (Ledige) und 500 000 Euro (Verheiratete).
Die Verwaltungsausgaben des Bundes solen um jährlich eine Milliarde Euro gekürzt werden.
Die Steuerfreiheit von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen bleibt grundsätzlich erhalten. Sozialversicherungsbeitragsfrei bleiben diese Zuschläge aber nur noch bis zu einem Grundstundenlohn von 25 Euro.
2008 soll eine große Unternehmensteuerreform auf den Weg gebracht werden, die dazu führen soll, dass Konzerne und kleinere Firmen nicht mehr unterschiedlich besteuert werden. Bis dahin soll es Erleichterungen für Unternehmen geben. Ob die Körperschaftssteuer auf 19 von 25 Prozent gesenkt wird oder höhere Abschreibungen ermöglich werden, ist offen. Teile der Goldreserven sollen verkauft werden, die Erlöse sollen in einen Fonds fließen, aus dem die Mittel ab 2008 in den Haushalt gehen sollen. Ebenfalls für 2008 wird eine »Neuformulierung des Einkommensteuerrrechts« angestrebt.
Private Veräußerungsgewinne werden voraussichtlich von 2007 an mit pauschal 20 Prozent besteuert. Die bisherigen Spekulationsfristen von einem Jahr für Wertpapiere und zehn Jahre für Immobilien werden abgeschafft.
Die Eigenheimzulage entfällt bereits zum 1. Januar 2006. Gleichzeitig soll die degressive Abschreibung von Gebäuden mit Mietwohnungen gestrichen werden.

Wirtschaft

Zur Förderung von Mittelstand und Innovationen sollen über die nächsten vier Jahre insgesamt 25 Milliarden Euro in ein Investitionsprogramm fließen. Das Geld soll für Verkehrsprojekte, Forschung und Entwicklung sowie in die Gebäudesanierung verwendet werden. Einigung besteht auch über großzügigere Abschreibungsmöglichkeiten für mittlere und kleinere Betriebe. Die degressive Abschreibungsgrenze soll auf 30 von 20 Prozent angehoben werden.
Privatpersonen sollen Handwerkerrechnungen und Kosten für die Kinderbetreuung zum Teil von der Steuer absetzen können. Ein Bürokratie-TÜV für neue und bestehende Gesetze, Verfahrensbeschleunigungen und Änderungen der Statistik- und Berichterstattungspflichten sollen den Unternehmen bessere Rahmenbedingungen schaffen.

Arbeitsmarkt

Union und SPD wollen die Lohnzusatzkosten von derzeit knapp 41 Prozent auf unter 40 Prozent senken und damit die Beschäftigug ankurbeln. Die Mittel dazu sollen je zur Hälfte aus der höheren Mehrwertsteuer und aus Einsparungen bei der Bundesagentur für Arbeit aufgebracht werden. Die Union hatte eine Entschlackung des Arbeitsrechts gefordert. Nun sollen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei Neueinstellungen eine Probezeit von bis zu 24 Monaten vereinbaren können, statt bisher sechs Monaten.
Die von CDU und CSU angestrebte Wahlmöglichkeit zwischen Kündigungsschutzklage und Abfindung ist vom Tisch. Über eine Ausweitung betrieblicher Bündnisse wurde kein Konsens erzielt. Deshalb wird zu diesem Punkt kein Passus in den Vertrag aufgenommen.
Die große Koalition will das größte Reformprojekt der rot-grünen Bundesregierung, Hartz IV, deutlich nachbessern. Beim Arbeitslosengeld II sollen 2006 drei und von 2007 an jährlich vier Milliarden Euro eingespart werden.
Um die Zahl jugendlicher Hilfsempfänger zu senken, soll das Vermögen der Eltern stärker angerechnet werden. Die von der SPD geplante Erhöhung des Arbeitslosengeldes Ost auf Westniveau blieb umstritten. Zudem soll es einen Beschäftigungspakt für Ältere geben mit dem Ziel, die Beschäftigungsquote der über 55-Jährigen von derzeit etwa 40 auf mehr als 50 Prozent zu erhöhen. Die Förderung der Existenzgründung von Arbeitslosen mittels Ich-AG und Überbrückungsgeld soll zu einem Instrument zusammengelegt werden.

Gesundheit
und Pflege

Auch der Gesundheitsbereich gilt als schwieriges Verhandlungsfeld. Die Hauptlinien sind ungeklärt, Entscheidung über den Umbau des Gesundheitssystems fallen wohl erst kommendes Jahr. Es stehen sich die unvereinbaren Konzepte der Bürgerversicherung (SPD) und der einkommensunabhängigen Gesundheitsprämie (Union) gegenüber. Die Beitragsbemessungsgrenze soll nicht angehoben werden. Sie legt die Höhe des Einkommens fest, bis zu der Erwerbseinkommen mit Beiträgen belastet werden.
Bei der Pflegeversicherung setzt die Union auf mehr Privatversorgung der Bürger. Die SPD hält dies nicht für notwendig und möchte auch hier eine Bürgerversicherung.
Die Preise für Arzneimittel sollen für zwei Jahre eingefroren und die Preise für Nachahmer-Arzneimittel zur Entlastung der Krankenkassen um fünf Prozent gesenkt werden.

Rente

Union und SPD wollen die Frühverrentung stoppen. Durch Anreize und Förderung soll dafür gesorgt werden, dass die Arbeitnehmer bis zum heutigen gesetzlichen Renteneintrittsalter von 65 Jahren berufstätig sein können. 2007 soll eine Reform verabschiedet werden, die unter anderem eine schrittweise Anhebung der Altersgrenze von 2012 an vorsieht. Nach 2035 könnten Arbeitnehmer dann erst mit 67 Jahren ohne Abschläge in den Ruhestand gehen.
Der Rentenbeitragssatz soll 2007 um 0,4 Prozentpunkte auf 19,9 Prozent angehoben werden. Der designierte Arbeitsminister Franz Müntefering hat den Rentnern Nullrunden für die nächsten vier Jahre angekündigt.
Die Fachpolitiker wollen einen neuen Nachholfaktor einführen, der nach dem Jahr 2011 den Rentenanstieg dämpfen soll. Die private Altersvorsorge soll stärker unterstützt werden. Eine Pflicht zur Privatvorsorge ist aber nicht geplant. Eltern sollen für alle nach dem 1. Januar 2008 geborenen Kinder eine auf 300 Euro erhöhte staatliche Zulage erhalten. Die derzeitige Zulage pro Kind von 92 Euro soll bis 2008 auf 185 Euro steigen.

Verteidigung

Die Verteidigungspolitik soll sich nicht wesentlich ändern. Es bleibt bei der Wehrpflicht. Der von der Union geforderte Einsatz der Bundeswehr im Innern zur Terrorabwehr soll vorerst nicht ermöglicht werden.

Innere Sicherheit
und Justiz

Die 1999 ausgelaufene Kronzeugenregelung soll wieder eingeführt werden. Außerdem soll das Bundeskriminalamt präventive Kompetenzen bekommen. Es könnte damit vor allem dann direkt tätig werden, wenn Hinweise aus dem Ausland kommen, die nicht konkret einem Ort und damit einem Landeskriminalamt zuzuordnen sind. Im Streit um das Format der geplanten Anti-Terror-Datei haben sich Union und SPD auf einen Kompromiss geeinigt: Sie soll nun als Mischform aus Volltext- und Verweisdatei geschaffen werden. Die Anti-Terror-Gesetze sollen ergänzt werden.
Bei der Speicherung der Telefonverbindungsdaten wurden Eckpunkte vereinbart: Danach sollen Internetdaten sechs Monate und Telefondaten ein Jahr lang gespeichert werden. Ein Bewegungsprofil dürfen die Ermittler jedoch nicht erstellen. Die von der Union geforderte Sicherungshaft für verdächtige Ausländer wird nicht kommen.
Das GmbH-Gesetz soll novelliert werden. Die Grundsatzeinigung auf eine Senkung des Stammkapitals nennt keinen Mindestsatz. Union und SPD wollen Spitzenmanager staatlicher Unternehmen zur Offenlegung ihrer Einkünfte verpflichten.

Familie

Von 2008 an soll ein Elterngeld eingeführt werden. Bis zu ein Jahr lang sollen im Beruf pausierende Eltern zwei Drittel des letzten Nettoeinkommens erhalten, höchstens aber 1800 Euro im Monat.

Verkehr

Eine Pkw-Maut wird abgelehnt. Dagegen soll eine Transrapid-Strecke in Deutschland verwirklicht werden. Bahnfahrer sollen bei Verspätungen höhere Entschädigungen erhalten. Die Verkehrswegeplanung wird beschleunigt. Weitgehend offen gelassen wird die Frage eines Börsengangs der Deutschen Bahn. Hier wird lediglich auf das Gutachten im Auftrag des Bundes verwiesen, das die Privatisierung in Varianten mit und ohne Schienennetz prüfen soll.

Föderalismus

Als eines ihrer ersten großen Projekte haben SPD und Union eine Föderalismusreform angekündigt. Sie haben sich auf eine Entflechtung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern sowie eine spätere Neuordnung ihrer Finanzbeziehungen geeinigt. Weit weniger Gesetze sollen der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Die Länder sollen allein für die Bildungspolitik zuständig sein, für den Hochschulzugang und den -abschluss aber der Bund.

Energie

Die Förderung von Ökostrom soll unverändert weiter laufen. Ein massiver Ausbau ist bei der Gebäudesanierung geplant, um Energie einzusparen. Das Programm soll auf 1,5 Milliarden Euro von jährlich 360 Millionen Euro aufgestockt werden. Deutschland soll beim Klimaschutz Vorreiter bleiben. Am rot-grünen Atomausstieg bis 2021 wird nicht gerüttelt.

Bafög

Das Studenten-Bafög soll erhalten bleiben. Die Förderung wird weiter je zu Hälfte als Darlehen und als Zuschuss ausbezahlt.

Artikel vom 12.11.2005