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Frankfurter Allgemeine

»Der große Diebstahl unserer Tage nennt sich Generationengerechtigkeit.«

Leitartikel
Sparen und Menschenbild

Politik des Schnipp
und Schnapp


Von Rolf Dressler
Es ist schon recht auffällig, das plötzlich so kumpaneihafte Treiben der erbitterten Gegner von gestern. Will man ihm wenigstens noch ein gutes Haar abgewinnen, könnte man sagen: Es geschieht den Schwarzen und den Roten in Berlin ganz recht. Soll Deutschlands künftige Feuerwehr-Regierungstruppe das, was die Politik Land und Leuten über Jahre und Jahrzehnte hin allein finanziell eingebrockt hat, nun doch endlich reparieren, zumindest aber die Talfahrt stoppen.
Vordergründig tobt ein wildes Hin-und-her-Geschiebe (noch) vorhandener und gar nicht vorhandener Euro-Milliarden. Doch dahinter steht die Gretchenfrage, ob und wann das sogenannte politische Geschäft wohl je (wieder) zu wirklich moralischem Denken und Handeln (zurück-)finden wird. Mittelbar oder sehr persönlich haben oft leider auch Politikschaffende der geistig-moralischen Verflachung der Debattenkultur und der überlieferten guten Umgangssitten eifrig Vorschub geleistet.
Von welchem Menschenbild wollen und werden sie sich künftig leiten lassen?
Soeben ist das muntere Ausgaben-Streichorchester von CDU/CSU und SPD in Berlin dabei, mit einem Hieb gleich zwei zentrale Stützpfeiler zu kappen, die wir Menschen von unserer Ur-Natur her als Grundanker der persönlichen und familiären Existenz ansehen. Beide sind zudem eng miteinander verbunden:
- Die klassische Förderung des Sparens wird kreuz und quer zusammengestrichen, als handele sich um ein Bündchen Flicken, das man, schnipp-schnapp, unbesorgt in seine Bestandteile zerlegen darf. In Berlin kümmert es offenbar niemanden, dass die Tugend des Sparens und des sparsamen Wirtschaftens dem Menschen schon seit den frühen Jägern und Sammlern innewohnt.
- Als gleichermaßen existentiell wichtig und daher pflegenswert galt bisher der natürliche Hang des Menschen, nach eigenem Wollen und materiellem Vermögen möglichst schon zeitig vorzusorgen für Alter und Ruhestand. Doch auch die Anreize dazu wollen und werden die angehenden Großkoalitionäre von Union und SPD reihenweise niedermähen. Hauptziel: Haushaltslöcher provisorisch stopfen.
Mit anderen Worten: Die Politik räumt nur noch ab. Rigoros. Rüde. Ohne Rücksicht auf Verluste an Ansehen und Verlässlichkeit. Vertrauensschutz? Schall und Rauch! Und die Aufrufe zu Eigenverantwortung und Eigenvorsorge? Millionen Menschen werden sich fortan nicht nur fragen, wovon sie noch etwas sparen und für später vorsorgen sollen, sondern ob Sparen und Alterseigenvorsorge überhaupt noch einen Sinn machen, wenn Politik und Staat ihren Bürgern das Fell so über die Ohren ziehen wie jetzt und morgen und übermorgen höchstwahrscheinlich wieder.
Denn: Empfinden die Leute den Staat nur noch als unverschämt, werden sie ihm eines Tages die Gefolgschaft verweigern. Der Schaden wäre unabsehbar.

Artikel vom 12.11.2005