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Wuff, wuff, er war sichtlich stolz auf seinen Witz, verfolgte sie über die ganze Etage und wiederholte ständig: »Ich bin sicher, daß Sie es sind! Ich bin sicher, daß Sie es sind!« Zieh Leine, du Idiot, du bist mir im Weg.
Nein, das war meine Kollegin, sagte sie schließlich und zeigte auf Super Josy, die gerade ihre Krampfadern zählte.
Game over.

Zweitens konnte sie eben die Bredart nicht länger ertragen.
Sie war strohdumm, hatte ein bißchen Macht und nutzte sie gnadenlos aus (Vorarbeiterin einer Putzkolonne von Proclean war schließlich nicht das Pentagon, oder?), schwitzte, hatte eine feuchte Aussprache, stibitzte ständig die Kappen der Bics, um Fleischstückchen aus ihren Backenzähnen zu entfernen, und gab in jeder Etage einen rassistischen Witz von sich, wobei sie Camille auf ihre Seite zog, da sie neben ihr die einzige Weiße in der Truppe war.

Camille, die sich häufig an ihrem Scheuerlappen festhalten mußte, um ihn der Bredart nicht ins Gesicht zu schleudern, hatte sie unlängst gebeten, ihre dummen Sprüche für sich zu behalten, weil sie allmählich allen auf den Geist gehe.
»Nein, hör sie dir an. Wie sie spricht? Was machst du überhaupt hier bei uns? Spionierst du uns aus? Das hab ich mich neulich schon gefragt. Ob dich vielleicht der Chef auf uns angesetzt hat, um uns auszuspionieren oder so... Ich hab auf deinem Gehaltzettel gesehen, wo du wohnst, und wie du sprichst und überhaupt. Du bist keine von uns? Du stinkst nach vornehmer Familie, du stinkst nach Geld. Du Gefängnisaufseherin, du!«
Die anderen sagten nichts. Camille schob ihr Wägelchen weiter und ging weg.

Sie drehte sich um:
»Was sie zu mir sagt, ist mir schnurzegal, für sie hab ich nur Verachtung übrig. Aber ihr, ihr seid wirklich feige. Für euch hab ich den Mund aufgemacht, damit sie aufhört, euch zu demütigen, und ich erwarte kein Dankeschön, auch das ist mir schnurzegal, aber wenigstens könntet ihr mir helfen, die Klos zu machen. Denn so vornehm ich auch sein mag, ich bin immer diejenige, an der die Klos hängenbleiben, wenn ich euch mal darauf aufmerksam machen darf.«

Mamadou gab ein komisches Geräusch von sich und spuckte Josy neben die Füße, einen wirklich gräßlichen Klumpen. Dann schnappte sie sich ihren Eimer, schwenkte ihn vor sich her und schlug Camille damit auf den Hintern:
»Wie kann ein Mädchen mit so einem kleinen Hintern so ein grroßes Mundwerk haben? Du überraschst mich immer wieder.«

Die anderen brummten etwas und verstreuten sich träge. Bei Samia war es ihr egal. Bei Carine war es schon härter. Die mochte sie gern. Carine, die in Wirklichkeit Rachida hieß, aber ihren Vornamen nicht mochte und einer Faschistin die Stange hielt. Sie würde es weit bringen, die Kleine.

An dem Tag hatte sich das Blatt gewendet. Die Arbeit war immer noch gleich blöd, aber die Stimmung war jetzt ekelhaft. Das machte ziemlich viel aus.
Camille hatte Kolleginnen verloren, aber vielleicht eine Freundin gewonnen. Mamadou wartete vor dem Metroeingang auf sie und tat sich mit ihr zusammen. Sie leistete ihr Gesellschaft, während Camille für zwei arbeitete. Nicht weil die andere nicht willig wäre, aber sie war offen gesagt ganz einfach zu dick, um etwas zu schaffen. Wofür sie eine Viertelstunde brauchte, das wischte Camille in zwei Minuten, und außerdem hatte sie überall Schmerzen. Ohne Schmu. Ihr armes Gerippe konnte schon die eigene Last nicht mehr bewältigen: Enorme Schenkel, riesige Brüste und ein noch größeres Herz. Es muckte auf, und das war ganz normal.
»Du mußt abnehmen, Mamadou.«
»Ja, ja. Und du? Wann kommst du zu mir, um mein afrikanisches Hähnchen zu essen?« gab sie jedesmal zurück.

Camille hatte ihr einen Handel angeboten: Ich arbeite, aber du bestreitest die Unterhaltung.


Sie konnte nicht ahnen, wie weit dieser kleine Satz sie bringen würde. Die Kindheit im Senegal, das Meer, der Staub, die Zicklein, die Vögel, das Elend, ihre neun Geschwister, der alte weiße Pater, der sein Glasauge herausnahm, um sie zum Lachen zu bringen, die Ankunft in Frankreich 1972 mit ihrem Bruder Léopold, die Müllabfuhr, ihre mißglückte Eheschließung, ihr trotz alledem lieber Ehemann, ihre Bälger, ihre Schwägerin, die ihre Nachmittage im Kaufhaus verbrachte, während sie die ganze Arbeit verrichtete, der Nachbar, der erneut gekackt hatte, diesmal ins Treppenhaus, die häufigen Feste, der Ärger, ihre Kusine ersten Grades, die zu allem Überfluß Germaine hieß und sich letztes Jahr erhängt hatte, dabei zwei herzige Zwillinge zurückließ, die Sonntagnachmittage in der Telefonzelle, die holländischen Tücher, die Kochrezepte und eine Million weiterer Bilder, von denen Camille nie genug bekam. Sie brauchte nicht länger Courrier International, Senghor oder die Ausgabe Seine-Saint-Denis im Parisien zu lesen, es genügte, daß sie etwas stärker schrubbte und die Ohren spitzte. Und wenn Josy vorbeikam - was selten geschah -, bückte sich Mamadou, wischte mit dem Lappen über den Boden und wartete, bis die Luft wieder rein war, um sich erneut aufzurichten.

Vertraulichkeiten über Vertraulichkeiten, Camille wagte zunehmend indiskretere Fragen. Ihre Kollegin erzählte ihr die gräßlichsten Dinge, zumindest kamen sie ihr gräßlich vor, mit entwaffnender Unbekümmertheit.
»Aber wie organisierst du das alles? Wie hältst du das durch? Wie schaffst du das? Dieser Zeitplan ist die Hölle.«
»Papperlapapp. Red nicht von Dingen, wo du dich nicht auskennst. Die Hölle ist viel, viel schlimmer. Die Hölle ist, wenn du Leute, die du liebst, nicht mehr sehen kannst. Der ganze Rest zählt nicht. Sag mal, soll ich dir frrische Lappen holen?«
»Du könntest bestimmt eine Arbeit in deiner Nähe finden. Deine Kinder sollten abends nicht allein bleiben, man weiß nie, was passiert.«
»Meine Schwägerin ist ja da.«
»Aber du sagst doch, daß du dich auf sie nicht verlassen kannst.«
»Manchmal schon.«
»Proclean ist eine riesige Firma, ich bin sicher, du könntest auch eine Putzstelle in deiner Nähe finden. Soll ich dir helfen? Soll ich für dich fragen? Der Personalabteilung schreiben?« fragte Camille und richtete sich auf.
»Nein. Bloß nicht dran rühren, Mensch! Die Josy ist, wie sie ist, aber die drückt in vielen Punkten ein Auge zu, weißt du? So geschwätzig und dick, wie ich bin, kann ich von Glück sagen, daß ich überhaupt Arbeit hab. Weißt du noch, die ärztliche Untersuchung im Herbst? Dieser Dummkopf, dieser kleine Doktor, der wollt mich schikanieren, weil mein Herz abgesoffen wär unter zuviel Fett oder was weiß ich. Tja, da hat sie die Sache für mich in Ordnung gebracht, also rühr da nicht dran, sag ich dir.«
»Moment mal, sprechen wir von derselben? Von der blöden Ziege, die dich immer behandelt, als wärst du der letzte Dreck?«
»Natürlich sprrechen wir von derselben!« lachte Mamadou. »Ich kenn nur eine. Zum Glück!«
»Aber du hast gerade auf sie gespuckt!«
»Wo hast du das gesehen?« fragte sie verärgert. »Ich hab ihr nicht übergespuckt! Das würd ich mich nie trauen, du.«
Camille leerte den Reißwolf, ohne etwas zu sagen. Das Leben war schon ein Meister der Nuancen.
»Aber ist lieb gemeint. Du bist schon eine ganz Liebe. Du mußt unbedingt mal abends zu mir kommen, damit dir mein Bruder ein schönes Leben arrangiert, mit einer endgültigen Liebe und vielen Kindern.«
»Pff...«
»Was ÝpffÜ? Willst du keine Kinder?«
»Nein.«
»Sag das nicht, Camille. Sonst beschwörst du ein böses Schicksal.«
»Das ist schon da.«
Mamadou betrachtete sie böse:
»Du solltest dich schämen, so was zu sagen. Du hast Arbeit, ein Haus, zwei Arme, zwei Beine, ein Land, einen Schatz.«
»Pardon?«
»Ja! Ja!« frohlockte sie. »Wenn du meinst, ich hätt dich noch nicht mit Nourdine unten gesehen? Wie du seinem dicken Hund immer schöntust. Glaubst du, meine Augen würden auch im Fett ersaufen?«
Und Camille errötete.
Um ihr eine Freude zu machen.

Nourdine, der heute abend total hektisch war und sich mehr noch als sonst in seine Weltverbessererjacke gezwängt hatte. Nourdine, der seinen Hund verrückt machte und sich für Inspektor Harry hielt.
»He, was ist los«, fragte Mamadou, »warum knurrt der so, dein Kalb?«
»Ich weiß nicht, was los ist, aber irgendwas stimmt hier nicht. Nicht hierbleiben, Mädels. Nicht hierbleiben.«

»Ja! Er war glücklich. Fehlten nur noch die Ray-Ban und die Kalaschnikow.«
»Nicht hierbleiben, sag ich doch!«
»He, beruhig dich«, gab sie zurück, »reg dich nicht so auf.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.12.2005