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Es war ein luxuriöser Kombi, der die Innen- und Außentemperaturen anzeigte (+21¡, -3¡). Sie spreizte die Beine, legte die Stirn an die Scheibe und verbrachte den Rest der Fahrt damit, die kleinen, zusammengekauerten Menschenbündel auf den Gittern über den Belüftungsschächten der Metro und in den Schlupfwinkeln der Toreinfahrten zu betrachten.
Die Starrköpfigen, die Dickschädel, die sich weigerten, sich in Alufolie zu hüllen, um nicht vom Lichtstrahl der Scheinwerfer erfaßt zu werden, und die den warmen Asphalt den Kacheln von Nanterre vorzogen.
Sie verzog das Gesicht.
Schlimme Erinnerungen stiegen in ihr hoch.
Und ihr halluziniertes Gespenst? Er hatte so jung ausgesehen. Und sein Hund? Es war der reinste Schwachsinn. Mit ihm konnte er nirgendwo hingehen. Sie hätte mit ihm reden sollen, ihn vor dem großen Matrix warnen und fragen, ob er Hunger habe. Nein, er wollte seinen Stoff. Und sein Köter? Wann hatte er wohl das letzte Mal Hundefutter bekommen? Sie seufzte. Was war sie blöd. Machte sich Sorgen um eine Promenadenmischung, wo die Hälfte der Menschheit von einem Plätzchen auf einem Entlüftungsschacht träumte, war sie blöd. Komm, geh schlafen, Alte, ich schäme mich für dich. Wie paßt das alles zusammen? Du machst das Licht aus, um ihn nicht mehr zu sehen, bläst dann auf dem Rücksitz einer Limousine Trübsal und kaust auf deinem Spitzentaschentuch.
Husch husch, ins Körbchen. Die Wohnung war leer, sie holte sich einen Schnaps, ohne hinzusehen, welchen, trank genug, um den Weg zu ihrem Kopfkissen zu finden, und stand in der Nacht wieder auf, um sich zu übergeben.

7. KapitelDie Hände in den Taschen, die Nase in der Luft hopste sie unter der Anzeigetafel auf und ab, als eine vertraute Stimme ihr die gewünschte Auskunft erteilte:
»Der Zug aus Nantes. Planmäßige Ankunft 20.35 Uhr auf Gleis 9. Wird voraussichtlich ca. 15 Minuten später ankommen. Wie immer.«
»Ach! Du bist da?«
»Bin ich«, antwortete Franck. »Das fünfte Rad am Wagen. Sag mal, du hast dich aber schön gemacht! Was ist denn das hier? Lippenstift, oder spinn ich?«
Sie verbarg ihr Lachen hinter den Löchern ihres Schals.

»Du bist doof.«
»Nein, ich bin eifersüchtig. Für mich schminkst du dich nie.«
»Das ist keine Schminke, sondern was für aufgesprungene Lippen.«
»Lügnerin. Zeig mal.«
»Nein. Hast du noch Urlaub?«
»Ich fang morgen abend wieder an.«
»Ja? Wie gehtÕs deiner Großmutter?«
»Gut.«
»Hast du ihr mein Geschenk gegeben?«
»Ja.«
»Und?«
»Sie hat gesagt, um mich so gut zeichnen zu können, müßtest du in mich verknallt sein.«
»Ganz bestimmt.«
»Wollen wir was trinken?«
»Nein. Ich war den ganzen Tag drinnen. Ich will mich da vorne hinsetzen und mir die Leute anschauen.«
»Kann ich dir dabei Gesellschaft leisten?«
Sie kauerten sich auf eine Bank zwischen einem Zeitungskiosk und einem Stempelautomaten und beobachteten das Gewimmel kopfloser Fahrgäste.

»Los! Lauf zu, Junge! Lauf zu! Tja... Zu spääät.«

»Einen Euro? Nee. Õne Kippe, wenn du willst.«

»Kannst du mir erklären, warum immer die Mädels, die am schlechtesten gebaut sind, Hüfthosen anhaben? Das versteh ich nicht.«

»Einen Euro? He, du hast mich doch eben schon angepumpt, Alter!«

»Siehst du das kleine Muttchen mit ihrer bretonischen Haube, hast du dein Heft mit? Nein? Schade. Und den da? Guck mal, wie der sich freut, seine Frau wiederzusehen.«
»Da ist was faul«, meinte Camille, »das ist bestimmt seine Geliebte.«
»Warum meinst du?«
»Ein Mann, der mit seinem Herrentäschchen in die Stadt kommt, sich auf eine Frau im Pelzmantel stürzt und ihr den Nacken küßt. Glaub mir, da ist was faul.«
»Pff... Vielleicht ist das seine Frau?«
»Nix da! Seine Frau hockt in Quimper und bringt um diese Zeit die Kinder ins Bett! Hier, das ist ein Ehepaar«, kicherte sie und zeigte auf zwei Spießer, die sich an der Markierung eines TGV anbrüllten.
Er schüttelte den Kopf:
»Du hast keine Ahnung.«
»Du bist zu sentimental.«

Anschließend ging ein uraltes Paar mit zwei Stundenkilometern an ihnen vorbei, gebeugt, zärtlich, vorsichtig hielten sie sich am Arm. Franck stieß sie mit dem Ellbogen an:
»Hier!«
»Ich geb mich geschlagen.«

»Ich liebe Bahnhöfe.«
»Ich auch«, gab Camille zurück.
»Wenn du ein Land kennenlernen willst, brauchst du dich nicht in einen Bus zu zwängen, es reicht, wenn du dir die Bahnhöfe und die Märkte anschaust, dann weißt du Bescheid.«
»Das seh ich genauso. Wo bist du überall gewesen?«
»Nirgendwo.«
»Du bist noch nie aus Frankreich rausgekommen?«
»Ich war zwei Monate in Schweden, Koch bei der Botschaft. Aber das war im Winter, ich hab nix gesehen. Dort kannst du nirgendwo was trinken. Es gibt keine Bars, nix.«
»Hm, und der Bahnhof? Und die Märkte?«
»Ich hab vom Tag nichts gesehen.«
»War es gut? Was grinst du?«
»Nix.«
»Sag schon.«
»Nee.«
»Warum nicht?«
»Darum.«
»Ach so, es steckt eine Frau dahinter.«
»Nein.«
»Lügner, das seh ich doch an deinem... deiner Nase, die immer länger wird.«
»Okay, wollen wir?« fragte er und zeigte auf die Bahnsteige.
»Erst erzählst duÕs mir.«
»Da war nix. Nix Ernstes.«
»Du hast mit der Frau vom Botschafter geschlafen, stimmtÕs?«
»Nein.«
»Mit seiner Tochter?«
»Ja! Genau! Bist du jetzt zufrieden?«
»Sehr zufrieden«, bestätigte sie ihm kokett, »war sie süß?«
»Eine richtige Vogelscheuche.«
»Neeeiin?«
»Doch. Nicht mal ein Schwede, der sich samstagabends in Dänemark mit Nachschub versorgt und zu wie eine Haubitze zurückkommt, hätte sie gewollt.«
»Was warÕs denn dann? Mildtätigkeit? Körperhygiene?«
»Grausamkeit.«
»Erzähl.«
»Nee. Nur wenn du mir sagst, daß du dich geirrt hast und die Blonde von vorhin doch die Frau von dem Typen war.«
»Ich hab mich geirrt: Die Frau mit dem Fischottermantel war wirklich seine Frau. Sie sind seit sechzehn Jahren verheiratet, haben vier Kinder, sie lieben sich, und jetzt grad macht sie sich im Fahrstuhl zum Parkhaus an seinem Hosenlatz zu schaffen und behält dabei die Uhr im Auge, weil sie vorm Losfahren noch ein Kalbsragout in den Ofen geschoben hat und ihn gerne befriedigen würde, bevor der Lauch verbrannt ist.«
»Pah! Für Kalbsragout nimmt man keinen Lauch!«
»Nicht?«
»Das verwechselst du mit Rindfleischsuppe.«
»Und deine Schwedin?«
»Das war keine Schwedin, sondern eine Französin. Eigentlich war ich scharf auf ihre Schwester. Eine verwöhnte Prinzessin. Eine kleine Quasselstrippe, die rumlief wie ein Spice Girl, und heiß wie ein glühendes Eisen. Sie war genauso angeödet, denk ich mir. Und um sich die Zeit zu vertreiben, hat sie sich mit ihrem Arsch bei uns auf den Herd gesetzt. Hat alle umgarnt, ihren Finger in meine Töpfe gesteckt, ihn langsam abgeleckt und mich von unten her angeschaut. Du kennst mich ja, ich bin da nicht heikel, irgendwann hab ich sie mir im Zwischengeschoß geschnappt, und sie fängt an zu quieken, die dumme Ziege. Daß sie es ihrem Vater erzählen würde und so. Mannomann, ich bin echt nicht heikel, aber ich mag keine Frauen, die Männer scharfmachen. Darauf hab ich ihre große Schwester flachgelegt, damit sie das Leben kennenlernt.«
»Gegenüber der Häßlichen ist das echt widerlich!«
»Gegenüber den Häßlichen ist alles widerlich, das weißt du.«
»Und dann?«
»Bin ich gegangen.«
»Warum?«
»...«
»Diplomatischer Zwischenfall?«
»Könnte man so nennen. Los, gehen wir.«
»Ich mag es auch gern, wenn du mir Geschichten erzählst.«
»Von wegen Geschichten.«
»Hast du noch mehr solche Schoten auf Lager?«
»Nee. In der Regel bemüh ich mich, die Hübschen abzukriegen!«

»Wir sollten noch etwas weiter gehen«, stöhnte sie, »wenn er da vorn die Treppe nimmt und direkt zum Taxistand geht, entwischt er uns.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich kenn doch meinen Philou. Der läuft immer geradeaus, bis er gegen einen Pfosten knallt, dann entschuldigt er sich und guckt, wo der Ausgang ist.«
»Sicher?«
»Na klar. He, ist gut jetzt. Bist du verliebt oder was?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.11.2005