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Eule fangen mit Ententrick
Besuch bei der ältesten Vogelwarte der Welt an der Kurischen Nehrung
Der große Vogelzug ist vorbei, es ist wieder ruhiger in der ältesten Vogelwarte der Welt. Die liegt in Russland, und dort war in den vorigen Wochen viel los.
Ängstlich flattert das Wintergoldhähnchen in der Hand von Anatoli Schapowal. Doch aller Widerstand ist zwecklos. Der winzige Singvogel lässt schließlich das Interesse der Wissenschaft über sich ergehen - in der ältesten und größten Vogelfanganlage der Welt, im russischen Rybatschi. Das hieß früher Rossitten und liegt auf der Kurischen Nehrung, einer Landzunge der Ostsee nahe Königsberg.
Der Ornithologe macht es kurz: Flügelmaße werden genommen, das Bauchgefieder freigepustet, um Fettreserven zu kontrollieren, Daten in ein Tabellenbuch eingetragen. Zum Schluss geht's kopfüber in einen Papptrichter zum Wiegen. Schon darf das Goldhähnchen zurück in die Freiheit, künftig mit dem Ring Nummer VD 63 325 der Russischen Akademie der Wissenschaften am Bein.
Schapowal hat währenddessen schon den nächsten Anwärter auf einen metallenen »Reisepass« in den Fingern. Knapp 20 Sekunden braucht der erfahrene Vogelkundler für eine Beringung, im Netzkäfig warten die anderen Kandidaten: Schwanz- und Kohlmeisen, Waldohreulen, Rotkehlchen, Waldbaumläufer, eine Singdrossel.
Nachschub liefert die große Reuse am Rand des Nehrungswaldes, ein riesiges Netzgestell, in dessen Eingangstor ein Flugzeug landen könnte. Ganze Vogelschwärme fliegen dort hinein, geraten durch ein ausgeklügeltes System von Netzen immer tiefer in die hundert Meter lange Reuse und finden sich am Ende in mannshohen Fangboxen wieder. Diese Reusen gelten als größte wissenschaftliche Vogelfanganlage der Welt.
Etwa 2,3 Millionen Vögel in 196 Arten sind mit ihrer Hilfe in den vergangenen fünf Jahrzehnten vermessen, registriert und beringt worden. Im Schnitt 80 000 pro Jahr. Bei manchen hilft Schapowal auch ein bisschen nach: Waldohreulen etwa lockt er mit dem Quietschen einer Gummiente in die Reuse. »Die Eulen orientieren sich vor allem mit ihrem feinen Gehör«, sagt er. Bis zu 80 Stück pro Nacht fielen schon auf den Ententrick herein. Die Nehrung ist ein Brennpunkt der europäischen Vogelzugrouten. In Spitzenzeiten überqueren bis zu einer Million Vögel pro Tag das Gebiet. Ein grandioses Naturschauspiel.
Den Pastor und Ornithologen Johannes Thienemann faszinierte es derart, dass er 1901 in Rossitten im damaligen Ostpreußen die erste Vogelwarte der Welt gründete. Sie wurde weltberühmt. Heute geht es im Rahmen internationaler Forschungen um ökologische Fragen wie der, wo die Vögel auf ihren Wanderungen Rast machen. »Darum sind Wiederfänge besonders aufschlussreich«, sagt Schapowal, der seit 1978 jedes Jahr von März bis November aus St. Petersburg in die Vogelwarte umzieht, und sich selbst gern als Zugvogel bezeichnet.

Artikel vom 19.11.2005