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Martyrium für Kinder
in elterlicher Wohnung

Jessica-Prozess vor dem Ende - Weitere Fälle

Hamburg (dpa). Der Prozess um den Tod von Jessica in Hamburg steht kurz vor dem Abschluss. Just jetzt tauchen immer neue Fälle von verwahrlosten Kindern auf.

Für das Anliegen der Verteidigung ist der Zeitpunkt günstig. Aus dem Urteil müsse etwas gelernt werden »für die Kinder, die nicht auf der Sonnenseite stehen«, hatte sich Rechtsanwalt Manfred Getzmann schon gewünscht, als Ende August vor dem Hamburger Landgericht der Mord-Prozess gegen die Eltern der qualvoll verhungerten Jessica begann. Ausgerechnet jetzt, da sich das Verfahren um das grausame Sterben der Siebenjährigen dem Ende nähert und heute möglicherweise schon die Plädoyers gehalten werden, erschüttern neue Fälle von Kindesvernachlässigung die Hansestadt. Und sie lassen das Anliegen des Verteidigers umso dringlicher erscheinen.
In einer völlig verdreckten Wohnung entdeckte die Hamburger Polizei eine Vierjährige und ihren zwei Jahre alten Bruder, die zwischen Müllhaufen und Exkrementen leben mussten (wir berichteten). In einer anderen verwahrlosten Wohnung fanden die Ermittler einen 13 Monate alten Jungen, für den es weder Wickeltisch noch Bettchen gab. Und eine 42-Jährige hauste mit sieben ihrer acht Kinder unter erbärmlichen Umständen.
Jessica war unbemerkt von Nachbarn und Behörden in einem Hochhaus einen langsamen Tod nach jahrelanger Unterernährung gestorben. Das Martyrium in der elterlichen Wohnung wurde erst bekannt, als das Mädchen am 1. März an Erbrochenem erstickte.
Bereits acht Monate vor Jessica war die zweieinhalbjährige Michelle gestorben, an einem Hirnödem, daheim im Bett. Auch ihre Eltern stehen gerade vor dem Hamburger Landgericht, angeklagt wegen fahrlässiger Tötung und Verletzung der Fürsorgepflicht. Die Behörde ermittelt aber auch gegen drei Mitarbeiter des zuständigen Bezirksamts. Diese sollen von den katastrophalen Zuständen gewusst, aber nicht eingegriffen haben. »Das ist mir alles über den Kopf gewachsen«, sagte Michelles Mutter, die auch ihre fünf weiteren Kinder vernachlässigt haben soll, vor Gericht.
»Ich habe es versucht, ich habe es nicht geschafft«, antwortete Jessicas Mutter auf die Frage, warum sie sich nicht um Hilfe bemüht habe. Zu ihrer Schuld am Tod der Tochter hat sich die 36-Jährige bekannt.

Artikel vom 11.11.2005