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Harmonie und Gewalt

Auf dem »Platz des Himmlischen Friedens« in Peking

Von Thomas Albertsen
TianĂ•an Men Guangchang: Um den mit 880 mal 500 Metern größten städtischen Platz auf Erden zu benennen, haben die Chinesen gleich die dritte und vierte Dimension bemüht: »Platz des himmlischen Friedens« nennen sie das weitläufige Areal, auf dem Geschichte geschrieben wurde.

Der letzte Kaiser Pu Yi dankte dort am 25. Dezember 1911 ab, Studentenproteste im Mai 1919 mündeten in die Gründung der Kommunistischen Partei, Mao Zedong rief am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik aus und gab 1966 den Startschuss zur blutigen Kulturrevolution. Maos Mausoleum ist seit seinem Tod das hässliche Zentrum des Platzes. Lange Schlangen von Chinesen warten immer noch geduldig, um die sterblichen Überreste ihres großen Führers einmal sehen zu können. Zwischendurch wird das Mausoleum immer wieder mal geschlossen - Mao benötigt Pausen zwecks Erneuerung der Konservierung.
1976 und 1989 schließlich wurde der Himmlische Friede durch Demonstranten gestört, die in Erinnerung an die jeweils kurz zuvor verstorbenen Führer Zhou Enlai und Hu Yaobang Bürgerrechte einforderten und daraufhin von der Armee gewaltsam in die Schranken gewiesen wurden.
Der Platz mit der Großen Halle des Volkes, wo die 10 000 Delegierten der KPCh ihre Volkskongresse abhalten, ist quasi das Herz Chinas - und nirgendwo ist die blutige Vergangenheit des totalitären Staates noch so präsent wie eben auf dem Tian'an Men Guangchang.
Die Fernsehbilder vom Massaker am 4. Juni 1989 aber haben sich ins Gedächtnis der Welt eingebrannt und führen immer wieder dazu, an das Gewissen all derer zu appellieren, die mit den Mördern von einst heute gute Geschäfte machen.
So gesehen, ist der Platz des Himmlischen Friedens auch ein idealer Ort, um den Konfuzianismus des Kleinen Mannes zu studieren. Drei zentrale Wertvorstellungen sind es, die den Chinesen prägen: Das Gesicht muss gewahrt bleiben, Harmonie wird angestrebt - und persönliche Beziehungen sind wichtig.
Es ist dieser um 1200 entstandene, vom Philosophen Zhu Xi begründete Neokonfuzianismus, der zu einer Eindimensionalität im Denken führte, und auf eben diesem Altar wurde die Individualität geopfert. Darin liegt begründet, dass genau jene Menschen, die man durch politische Intervention vor Gewalt, Willkür und Machtmissbrauch schützen will, eben dies überhaupt nicht verstehen und sich durch die Kritik an China persönlich angegriffen fühlen.
Der Neokonfuzianismus war die Antwort auf 500 Jahre Krieg und Chaos im Land. Ordnung in China ist also bis heute nicht die Konsequenz von Gesetzen, sondern von hierarchiegerechten Verhaltensweisen, die nur zum Ziel haben, Harmonie zu sichern und die Menschen ihr Gesicht wahren zu lassen. Daraus resultiert das chinesische Selbstverständnis, Harmonie notfalls mit Gewalt gegen Individuen zu erzwingen. Das können Touristen auf dem Platz zuweilen hautnah miterleben. So gerieten Mitglieder einer Reisegruppe des Veranstalters Studiosus im September in eine provozierende Demon- stration tibetanischer Nationalisten. Blitzschnell waren auf dem riesigen Platz die Sicherheitskräfte präsent, unterdrückten den Protest mit offener Billigung der umstehenden Bürger und zwangen die Tibeter in einen weißen Kleinbus. Die Urlauber, die in der Nähe fotografierten, wurden kurzfristig festgenommen, mussten stramm stehen und wurden rüde aufgefordert, ihre Kameras abzugeben. Erst nachdem alle ihre Bilder der vergangenen Minuten gelöscht waren, durften sie von dannen ziehen. Wer nun nach Meinung der Chinesen das Gesicht verloren hatte, dürfte wohl klar sein...
Abends verwandelt sich der Platz in ein riesiges Disneyland. Die Konturen der Dächer aller umliegenden Gebäude werden mit Lichtgirlanden nachgezeichnet. Aber nur die äußeren Bürgersteige dürfen dann noch betreten werden. Nachts soll wirklich himmlischer Frieden auf dem Platz herrschen...

Artikel vom 15.11.2005