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»Wir hatten das Weinen verlernt«

Zeitzeugin Edith Erbrich überlebte das KZ und stellt sich heute Schülern

Paderborn (WB/rb). Nichts führt Schülern die Dimensionen des Holocaust klarer vor Augen, als der Bericht eines Zeitzeugen. Indes: Die Überlebenden werden immer weniger.Edith (li.) und Hella Erbrich kamen ins KZ, die katholische Mutter blieb zurück.

Mit einer der jüngsten Zeitzeuginnen des Holocaust diskutierten Paderborner Abendrealschüler im Vorfeld des heutigen Jahrestages des ersten großen Judenpogroms der Nazis am 9. November 1938. Die Arbeitsgemeinschaft »Schule ohne Rassismus« schloss damit an die Ausstellung »Kinder im KZ Theresienstadt« im Paderborner Westfalen-Kolleg an.
Auch wenn Schüler dem Thema heute oft ablehnend begegneten, sei die Auseinandersetzung notwendig, unterstrich Projektleiterin Petra Krieger-Brockmann. Menschen hätten lange die Wahl gehabt, »Nein« zu sagen, - nicht erst, als es zu spät war, sondern, als sich erste Anzeichen von Diskriminierung, Entrechtung, Unterdrückung und Verfolgung zeigten. Die Ausgrenzung habe mit kleinen Einschnitten begonnen; am Ende standen Todesurteile, Konzentrationslager und Holocaust.
Als Edith Erbrich im Oktober 1937 in Frankfurt am Main geboren wurde, waren Mischehen mit Juden, wie die ihrer Eltern, bereits verboten. Mit knapp zwei Jahren erhielt sie die Kennkarte »J« und den Zwangsvornamen »Sara«.
Vage weiß sie noch, wie um 1942 die Großeltern »verschwanden«. Deutlicher ist die Erinnerung daran, dass die Familie ausgebombt wurde und an die Angst im Luftschutzkeller, ohne die Eltern überstehen zu müssen. »Wir mussten als Kinder schon erwachsen sein. Wir hatten keine Kindheit.«
Unvergesslich ist ihr, wie sie mit der Schwester entlang der Bahngleise Kohlestückchen suchte. Jeder habe sich denken können, dass es »jüdische« Mädchen waren. »Deutsche« Kinder waren zu dieser Zeit in der Schule. Ein Mann wollte ihnen den Fund abnehmen, doch ein Lastwagenfahrer sah die Szene und drohte dem Dieb Gewalt an.
Als alle, außer Mutter, die Aufforderung zur Transport nach Theresienstadt erhielten, sah sie den Vater das erste Mal weinen. Der Weg zum Bahnhof war ein einziger Trauerzug. Die katholische Mutter durfte »auch freiwillig« nicht mit. Am 14.02.1945 verließen Edith, Schwester Hella, Vater und ein Cousin Frankfurts Ostbahnhof mit dem letzten Deportationszug. Edith war 7 Jahre und 3 Monate.
In Theresienstadt wurden die Kinder vom Vater getrennt, entlaust, geschoren und zum »Duschen« geschickt. Edith verlor das Bewusstsein, weil sie panische Angst hatte. Die Assoziation »Dusche und Gaskammer« hatte sich bereits irgendwie festgesetzt - selbst bei Kindern. Dabei ging es diesmal nur um »Hygiene«.
Edith lebte in ständiger Angst, die Schwester oder den Vater und damit ihre Sicherheit zu verlieren, vom Heimweh nach der Mutter ganz zu schweigen. Einmal aß sie, vom ständigen Hunger gequält, Kartoffelschalen, die Freunde ihres Vaters zum Trocknen im Lager aufgehängt hatten, um sie zu rauchen. Später gestand sie den Mundraub. Keiner habe mit ihr geschimpft, erinnert sie sich, vielmehr erhielt sie einen Kanten Brot aus der Notration.
Schlüsselerlebnisse dieser Art sind es, die die 68-Jährige heute veranlassen, vor Schulklassen zu berichten. Die im KZ erlebte Menschlichkeit und das Einschreiten eines Unbekannten beim Kohlesammeln sind für sie Muster an Courage.
Als am 8. Mai 1945 der Krieg endete, war sie dem Tod nur um Stunden entgangen. Am 9. Mai sollte Transport XII/10 zu Ediths »Vernichtung« abgehen.

Artikel vom 09.11.2005