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»Da sind
Milchmädchen und Joghurt-
Burschen
am Werk«

Leitartikel
Bequeme Koalitionäre

Das kleinste Karo scheint groß genug


Von Jürgen Liminski
Ganz gleich, was aus Edmund Stoiber nun in Bayern wird, in Berlin wäre es auf jeden Fall nichts geworden. Insofern darf er sich beglückwünschen, in Berlin wäre er zusammen mit der Kanzlerin womöglich untergegangen.
Denn dass die Große Koalition auch Großes vollbringen wird, das darf nach den jüngsten Beschlüssen mit Fug bezweifelt werden. Die Großkoalitionäre gehen den bequemen Weg des kleinsten geistigen Karos, des geringsten Widerstandes, und das heißt Steuererhöhungen, die populär sind, oder Maßnahmen, die im Moment niemandem weh tun, aber Handlungsfähigkeit demonstrieren sollen.
Für solche phantasielosen Kompromisse braucht man kein Programm.
Rente mit 67: Das Renteneintrittsalter soll bis 2030 erhöht werden. Damit trage man der längeren Lebenszeit und den Folgen des demographischen Defizits Rechnung. Aber hier sind Milchmädchen und Joghurtburschen am Werk. Denn bis 2030 wird sich die durchschnittliche Lebenserwartung um drei Jahre verlängert haben, für die Rentenkassen also ein Minus von einem Jahr, ganz davon abgesehen, dass in der Zwischenzeit, etwa von 2010 an, die geburtenstarken Jahrgänge, die Baby-Boomer, ins Rentenalter kommen, gleichzeitig die Zahl der sozialpflichtigen Erwerbstätigen noch weiter sinkt und niemand weiß, wie man die Renten dann bezahlen soll.
Das ist Politik gemäß dem »Nach-mir-die-Sintflut-Prinzip«. Mutige oder wenigstens ehrliche Politiker hätten das Rentenalter also schon bis 2015 auf 67 erhöht, um die Welle der Baby-Boomer abzufangen oder einzudämmen. So aber wird sie die Republik, diese Insel der Seligen - man könnte auch sagen: das Tal der Ahnungslosen - überschwemmen.
Steuern: Die Mehrwertsteuer wird angehoben und eine Reichensteuer eingeführt. Mit anderen Worten: Alle werden abgezockt, die Armen wie die Reichen.
Es gibt keinen ernstzunehmenden Wirtschaftswissenschaftler, der das gutheißt. Jeder der einigermaßen seriös nachrechnet, kommt zu dem Schluss: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer trifft am stärksten die Armen, das neue Hartz-IV-Proletariat und die Familien. Sie bluten sowieso schon gewaltig, weil die Reformgesetze von Rot-Grün die Schwelle des Existenzminimums gesenkt haben, so dass die Mehrausgaben für Hartz IV nicht nur zurückzuführen sind auf die handwerklichen Fehler des Gesetzes, Stichwort neue Bedarfsgemeinschaften, sondern auch auf rasant voranschreitende Verarmung. Und die Reichen? Es gibt einige, die sich gekonnt in Szene setzen und die drei Prozent von ihren Millionen für die Imagewerbung nutzen. Das Gros jedoch wird schlicht im Ausland investieren, mithin Arbeitsplätze in Deutschland abbauen.
Man fragt sich, wohin das führen, wie lange das halten soll. Mit Reformen, gar Visionen hat das nichts mehr zu tun. Schon reden manche von Neuwahlen im März. Wenn daraus die Iden des Merz würden, wäre das wenigstens ein Hoffnungsschimmer.

Artikel vom 09.11.2005