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Kinder mussten im Dreck leben

Polizisten befreien Geschwisterpaar

Hamburg (dpa). Die Hamburger Polizei hat im Stadtteil Wilhelmsburg in einer verdreckten Wohnung zwei völlig verwahrloste Kinder entdeckt.

Der zweijährige Junge und seine vierjährige Schwester hatten in einem abgedunkelten Zimmer einer Dachgeschosswohnung gelegen. Die Wohnung sei voller schmutziger Kleidung, Essensreste und Zigarettenkippen gewesen. Auch die Eltern hätten zwischen Müll und verschimmeltem Essen gelebt, hieß es. Die Kinder sind inzwischen in einem Kinderschutzhaus außerhalb Hamburgs untergebracht worden.
Einem Bericht des Hamburger »Abendblatts« zufolge hatte das Zimmer der Kinder weder Heizung noch Strom. Außer den verdreckten Betten befanden sich zwei vernagelte Kommoden in dem Raum, überall lagen benutzte Windeln. Fliegen surrten um die Körper der Kinder, die auf mit Exkrementen verschmierten Matratzen schliefen. Die Türklinken an der Innenseite seien abgebaut gewesen, auch die Fenstergriffe waren demontiert.
Die 22-jährige Mutter hatte die Polizei gerufen, nachdem sie nach einem nächtlichen Streit mit ihrem drogenabhängigen Lebensgefährten (28) nicht mehr in die Wohnung gelangt war.
Der Fall erinnert an das Schicksal der kleinen Jessica aus dem Stadtteil Jenfeld. Deren Eltern, die sich zur Zeit vor dem Hamburger Landgericht in einem Mordprozess verantworten müssen, hatten laut Anklage das Kind zuletzt ohne ausreichend Nahrung und Wasser in einem verdunkelten Zimmer wie in einem Gefängnis gehalten. Die völlig abgemagerte Siebenjährige war am 1. März qualvoll an ihrem Erbrochenen erstickt.
Die publik gewordenen Fälle von verwahrlosten Kindern sind nach Ansicht des Wiesbadener Kriminologen Professor Rudolf Egg nur die Spitze des Eisberges. »So etwas kommt wesentlich häufiger vor, als es sich die Öffentlichkeit vorstellen kann«, erklärte er gestern. Betroffen seien Kinder in Familien, in denen sich die Eltern überfordert fühlten.
»Es ist nicht so, dass es ihnen Lust oder Freude bereitet, Kinder zu quälen«, sagte Egg. Häufig spielten neue Lebensgefährten eine Rolle, für die der Vater oder die Mutter das Kind »ruhig stellen« wollte. Fälle von Verwahrlosung gebe es häufig auch bei sehr jungen Müttern oder bei Eltern, die in jungen Jahren ebenfalls Opfer wurden.
Die Kinder müssten nicht nur körperlich, sondern wegen ihrer seelischen Wunden auch psychologisch behandelt werden.
»Die Erfahrung einer Verwahrlosung hat schwer wiegende Auswirkungen und kann die Opfer bis ins Erwachsenenalter verfolgen«, meinte Egg. So bestehe unter anderem die Gefahr, dass sie später ihre Erfahrungen auf die eigenen Kinder übertrügen und deren Bedürfnisse ebenfalls nicht erfüllten.

Artikel vom 07.11.2005