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»Viele Reformen in der Türkei stehen bisher allenfalls auf dem Papier.«

Leitartikel
EU-Reformkatalog

Die Türkei
erwartet ein
»Verhältnis«


Von Dirk Schröder
Die Verhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei über einen Beitritt werden viel Zeit brauchen. Wenn überhaupt, werden mindestens zehn oder 15 Jahre ins Land gehen, bevor das Land am Bosporus überhaupt an einen Beitritt denken kann. Das ist keine neue Erkenntnis, und wer glaubt, dass es schneller gehen könnte, gaukelt sich etwas vor.
Auf dem Weg dorthin sind noch so viele Probleme zu lösen und Hürden zu überspringen, dass es heute ungewisser denn je ist, ob das vor allem von Ankara angestrebte Ziel erreicht wird. Deutlich hat dies gestern erneut die EU-Kommission mit der Vorlage ihres Aufgabenkatalogs für den Beitrittskandidaten Türkei gemacht.
Niemand bestreitet, dass es erhebliche Verbesserungen gegeben hat. Gewiss, die Todesstrafe ist abgeschafft. Doch viele andere Reformen stehen bisher nur auf dem Papier, vor allem bei den Menschenrechten und grundsätzlichen Freiheiten besteht noch erheblicher Handlungsbedarf.
Es wird weiter gefoltert, die Rechte der Kurden sind immer noch nicht anerkannt, nicht-muslimische Religionsgemeinschaften unterliegen unverändert erheblichen Einschränkungen, und das Militär hat nach wie vor eine (zu) starke Rolle inne.
Das ist aber noch längst nicht das Ende der Liste der EU-Kommission. Für die Türkei sind dies einschneidende Maßnahmen. Und es ist längst nicht sicher, dass Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan diesen Herausforderungen gewachsen ist.
Doch dies sind nicht etwa Schikanen, sondern die Kopenhagener Kriterien, auf deren Erfüllung die EU bestehen sollte - ohne Wenn und Aber.
Eigentlich glaubt niemand daran, dass es die Türkei schafft, die Bedingungen ausnahmslos zu erfüllen. Daraus folgt: Entweder wird der Türkei der Beitritt verweigert, oder die EU sagt zu allem Möglichen zähneknirschend Ja.
Da hilft nur eines: Beide Seiten sollten noch einmal darüber nachdenken, die Beitrittsverhandlungen doch ergebnisoffen zu führen. Eine Weichenstellung in diese Richtung ist jetzt auch bei den Berliner Koalitionsverhandlungen erfolgt. Nach langem Ringen haben sich Union und SPD auf eine gemeinsame Haltung zu einem EU-Beitritt der Türkei geeinigt. Statt »Privilegierter Partnerschaft«, wie sie die Union immer angestrebt hat, heißt es nun »Privilegiertes Verhältnis«. Damit kann die Union leben, die ja immer vor einer Vollaufnahme der Türkei gewarnt hat, das Land aber trotzdem eng an die europäischen Strukturen anbinden will. Dabei geht es nicht nur um die Menschenrechte und andere Reformen in der Türkei. Es geht vor allem auch um die Frage, ob die EU überhaupt noch aufnahmefähig ist für ein Land in diesen Dimensionen?
Aus heutiger Sicht ist die Frage mit einem klaren Nein zu beantworten. Und dass sich daran etwas Nennenswertes ändert, ist zu bezweifeln. Die Türkei muss sich darauf einstellen, dass sie nicht auf die Unterstützung Deutschlands für ihre Beitrittsambitionen zählen kann.

Artikel vom 10.11.2005