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Doch. Genau.«
Sie stand auf, schob den Sessel zur Seite und wühlte in ihrem kleinen Koffer.
»Setz dich da hin.«
»Warum?«
»Für ein Geschenk.«
»Willst du mich malen?«
»Ja.«
»Das will ich nicht.«
»Warum nicht?«
»...«
»Kannst du es nicht sagen?«
»Ich mag es nicht, wenn man mich beobachtet.«
»Es geht ganz schnell.«
»Nein.«
»Wie du willst. Ich hatte gedacht, ein kleines Porträt von dir würde ihr gefallen. Eine Art Naturalientausch, weißt du? Aber ich besteh nicht darauf. Das tu ich nicht mehr. Das ist nicht meine Art.«
»Na gut, aber schnell, ja?«

»So geht das nicht.«
»Was denn noch?«
»Der Anzug hier, die Krawatte und so, das geht nicht. Das bist nicht du.«
»Willst du, daß ich mich ausziehe?« grinste er.
»Au ja, das wäre toll! Ein schöner Akt«, antwortete sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Du machst Spaß?«
Er bekam es mit der Angst.
»Natürlich mach ich Spaß. Du bist viel zu alt! Und außerdem bist du bestimmt ganz behaart.«
»Überhaupt nicht! Überhaupt nicht! Ich hab kein Haar zuviel!«
Sie lachte.
»Komm schon. Zieh wenigstens die Jacke aus und mach die Krawatte auf.«
»Pff... Ich hab drei Stunden gebraucht, um den Knoten hinzukriegen.«

»Sieh mich an. Nee, nicht so. Man könnte meinen, du hättest einen Besen verschluckt, entspann dich... Ich mal dich doch nur, ich freß dich schon nicht, Idiot.«
»Doch, doch«, er blühte auf, »friß mich, Camille, friß mich ruhig.«
»Genau. Behalt dieses dämliche Grinsen. Das ist genau das richtige.«

»Bist du bald fertig?«
»Fast.«
»Ich hab keinen Bock mehr. Erzähl mir was. Erzähl mir eine Geschichte, damit die Zeit vergeht.«
»Von wem soll ich dir diesmal erzählen?«
»Von dir.«
»...«
»Was machst du heute?«
»Aufräumen, ein bißchen bügeln. Und dann gehe ich spazieren. Es ist so schönes Licht. Irgendwann lande ich bestimmt in einem Café oder einer Teestube. Esse Scones mit Heidelbeergelee... hmm. Und mit ein bißchen Glück gibtÕs dort einen Hund. Zur Zeit sammle ich die Hunde der Teestuben. Ich habe ein eigenes Heft nur für sie, aus wunderschönem Moleskin. Vorher hatte ich eins für Tauben. Bei Tauben bin ich unschlagbar. Die vom Montmartre, vom Trafalgar Square in London oder vom Markusplatz in Venedig, ich hab sie alle eingefangen.«
»Sag mal...«
»Ja?«
»Warum bist du immer allein?«
»Ich weiß nicht.«
»Magst du keine Männer?«
»Ich habÕs gewußt. Eine Frau, die deinem unwiderstehlichen Charme nicht erliegt, ist zwangsläufig lesbisch, oder was?«
»Nein, nein, ich frag mich nur, das ist alles. Du ziehst dich immer häßlich an, rasierst dir den Schädel kahl, all so was...«
Stille.
»Doch, doch, ich mag Männer. Frauen auch, damit duÕs weißt, aber ich bevorzuge Männer.«
»Hast du schon mal mit einer Frau geschlafen?«
»O ja, mehrfach!«
»Machst du Witze?«
»Ja. Okay, fertig. Du kannst dich wieder anziehen.«
»Zeig mal.«
»Du wirst dich nicht erkennen. Die Leute erkennen sich selbst nie.«
»Warum hast du hier einen großen Klecks gemacht?«
»Das ist der Schatten.«
»Ach?«
»Das nennt man lavieren.«
»Aha. Und das hier, was ist das?«
»Deine Koteletten.«
»Ja?«
»Du bist enttäuscht, nicht? Hier, nimm das noch mit. Das ist eine Skizze, die ich neulich gemacht habe, als du mit der Play Station gespielt hast.«

Breites Grinsen:
»Also, das hier ist klasse! Das bin ich!«
»Mir gefällt das andere besser, aber gut. Du brauchst sie zum Transport nur in einen Comic zu stecken.«
»Gib mir ein Blatt.«
»Warum?«
»Darum. Ich kann auch ein Porträt von dir malen, wenn ich will.«

Er betrachtete sie einen Moment, beugte sich über seine Knie, streckte die Zunge heraus und hielt ihr sein Gekritzel hin.
»Und?« fragte sie neugierig.

Er hatte eine Spirale gemalt. Ein Schneckenhaus mit einem kleinen schwarzen Punkt in der Mitte.
Sie reagierte nicht.
»Der kleine Punkt bist du.«
»Ich... Das habe ich verstanden.«
Ihre Lippen zitterten.
Er nahm ihr das Papier aus der Hand:
»Mensch! Camille, das war ein Witz! Nimm das doch nicht ernst! Das war nur Blödsinn!«
»Ja, ja«, stimmte sie zu und faßte sich mit der Hand an die Stirn. »Nur Blödsinn, das ist mir schon klar. Du mußt los, sonst kommst du zu spät.«

Er streifte sich in der Diele die Motorradkluft über und zog die Tür hinter sich zu, nicht ohne sich vorher auf den Helm zu schlagen.
Der kleine Punkt bist du...
Bescheuert, der Typ.

2. Kapitel
Da er ausnahmsweise einmal keinen Rucksack voller Proviant mitschleppte, legte er sich auf den Tank und ließ die Geschwindigkeit ihre wunderbar reinigende Arbeit verrichten: Beine zusammengepreßt, Arme gestreckt, Brustkorb im Warmen und Helm kurz vorm Zerspringen, drehte er das Handgelenk bis zum Anschlag, um seinen Ärger hinter sich zu lassen und an nichts mehr zu denken.
Er fuhr schnell. Viel zu schnell. Bewußt. Um zu sehen.

Seit er sich erinnern konnte, hatte er einen Motor zwischen den Beinen und eine Art Juckreiz im Handteller, und seit er sich erinnern konnte, betrachtete er den Tod nicht als ein ernst zu nehmendes Problem. Als weitere Unannehmlichkeit höchstens. Wenn überhaupt. Da er sowieso nicht mehr da wäre, um darunter zu leiden, welche Rolle spielte es dann, wirklich?

Kaum hatte er drei Sous in der Tasche, hatte er Schulden gemacht, um sich eine Maschine zu leisten, die für sein Spatzenhirn viel zu groß war, und kaum hatte er drei gewiefte Kumpel an der Hand, hatte er noch mehr ausgegeben, um ein paar Millimeter auf dem Tacho gutzumachen. An der Ampel war er ruhig, hinterließ nie Gummi auf dem Asphalt, maß sich nicht mit anderen und sah keinen Sinn darin, hirnrissige Risiken auf sich zu nehmen. Doch sobald er Gelegenheit hatte, war er auf und davon, holte alles aus der Maschine heraus und bemühte seinen Schutzengel.

Er liebte die Geschwindigkeit. Die liebte er wirklich. Mehr als alles auf der Welt. Mehr noch als die Weiber. Sie hatte ihm die einzigen glücklichen Momente im Leben beschert: Ruhe, Erleichterung, Freiheit. Als er vierzehn war, klammerte er sich an seinen Feuerstuhl wie ein Frosch an eine Streichholzschachtel (so sagte man damals) und war der König der kleinen Landstraßen der Touraine, mit zwanzig leistete er sich seine erste schwere Maschine, gebraucht, nachdem er den ganzen Sommer über in einem drittklassigen Schuppen bei Saumur rangeklotzt hatte, und heute war es zwischen zwei Schichten sein einziger Zeitvertreib: von einem Bike träumen, es kaufen, es auf Hochglanz polieren, alles aus ihm rausholen, von einem anderen Bike träumen, bei einem Vertragshändler rumhängen, es kaufen, es auf Hochglanz polieren etc.

Ohne sein Motorrad hätte er sich vielleicht öfter darauf beschränkt, seine Alte anzurufen, in der Hoffnung, sie möge ihm nicht jedesmal ihr ganzes Leben erzählen.

Das Problem war, es funktionierte nicht mehr so gut. Selbst bei 200 stellte sich die Leichtigkeit nicht mehr ein.
Selbst bei 210, selbst bei 220 arbeitete sein Verstand auf Hochtouren. Da konnte er noch so sehr versuchen, sich durchzumogeln, auszuweichen, sich durchzuschlängeln, zu beschleunigen, gewisse Erkenntnisse blieben an seiner Lederjacke kleben und nagten zwischen zwei Tankstellen an seinem Verstand.

Und nun heute, an einem 1. Januar, der blitzsauber war wie eine neue Münze, ohne Tasche, ohne Rucksack, mit nichts anderem auf dem Programm als einem leckeren Essen mit zwei liebenswerten Großmütterchen, hatte er sich wieder aufgerichtet und brauchte nicht mehr zum Dank den Fuß rauszustrecken, wenn ein zuvorkommender Autofahrer erschreckt auswich.

Er hatte die Waffen gestreckt und begnügte sich damit, von einem Punkt zum nächsten zu fahren und dabei immer wieder dieselbe zerkratzte alte Platte abzuspulen: Warum dieses Leben? Wie lange noch? Und wie das alles überstehen? Warum dieses Leben? Wie lange noch? Und wie das alles überstehen? Warum dieses Leben? Wie lange...

Er war todmüde und im Grunde gut gelaunt. Er hatte Yvonne eingeladen, um sich zu bedanken und - zugegeben - damit sie für ihn die Unterhaltung übernahm.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.11.2005