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Eine Zigarettenlänge.«
»Einverstanden.«
Und zum hundertachtundzwanzigsten Mal in dieser Woche legte Camille das Nisi Dominus von Vivaldi auf.
»Worum gehtÕs da?«
»Moment, ich sagÕs dir gleich. Den Seinen gibtÕs der Herr im Schlaf.«
»Genial.«

»Das ist schön, oder?«
»Keine Aaahnung«, gähnte er. »Davon versteh ich nix.«
»Witzig, das hast du letztens schon bei Dürer gesagt. Aber das kann man auch nicht lernen! Es ist schön... fertig, aus.«
»Doch, doch. Ob duÕs glaubst oder nicht, das kann man lernen.«
»...«
»Bist du gläubig?«
»Nein. Das heißt, ja. Wenn ich diese Art von Musik höre, wenn ich eine schöne Kirche betrete oder wenn ich ein Gemälde sehe, das mich berührt, eine Mariä Verkündigung zum Beispiel, schwillt mir das Herz so sehr, daß ich das Gefühl habe, an Gott zu glauben, aber damit liege ich daneben: Ich glaube an Vivaldi. An Vivaldi, an Bach, an Händel oder an Fra Angelico. Sie sind die eigentlichen Götter. Der andere, der Alte, ist nur ein Vorwand. Das ist übrigens meiner Meinung nach das einzig Gute an ihm: daß er stark genug war, um sie alle zu solchen Meisterwerken zu inspirieren.«
»Ich mag es, wenn du mir was erzählst. Dann hab ich das Gefühl, intelligenter zu werden.«
»Hör auf.«
»Doch, das stimmt.«
»Du hast zu viel getrunken.«
»Nee, eher zu wenig.«
»Hier, hör zu. Das ist eine schöne Stelle... viel fröhlicher. Das ist es übrigens, was mir an diesen Messen so gefällt: die fröhlichen Momente, wie das Gloria und all so was, die ziehen dich immer aus dem Wasser, wenn du grad abgesoffen bist. Wie im richtigen Leben.«

Langes Schweigen.


»Schläfst du?«
»Nein, ich warte, bis deine Zigarette zu Ende ist.«
»Weißt du, ich...«
»Was?«
»Ich finde, du solltest bleiben. Ich finde, alles, was du mir im Zusammenhang mit meinem Auszug über Philibert gesagt hast, gilt auch für dich. Ich glaube, daß er sehr traurig wäre, wenn du gehst, und daß du sein fragiles Gleichgewicht gleichermaßen austarierst.«
»Eh... den letzten Satz, könntest du den noch mal auf französisch wiederholen?«
»Bleib hier.«
»Nein... Ich... ich bin zu anders als ihr. Man packt nicht Geschirrtücher mit Frottee zusammen, wie meine Oma sagen würde.«
»Wir sind verschieden, das stimmt, aber bis wohin? Vielleicht sehe ich es ja falsch, aber ich habe den Eindruck, wir sind ein gutes Team Schwergebeutelter, oder?«
»Was du nicht sagst.«
»Und außerdem, was soll das heißen, verschieden? Ich, die ich nicht mal ein Ei kochen kann, habe den ganzen Tag in der Küche verbracht, und du, der du sonst nur Techno hörst, schläfst zu Vivaldi ein. Das ist Blödsinn, deine Geschichte von den Geschirrtüchern und dem Frottee. Was die Leute davon abhält, zusammenzuleben, ist ihre Dummheit, nicht ihre Verschiedenheit. Im Gegenteil, ohne dich wüßte ich heute nicht, wie ein Blatt Portulak aussieht.«
»Was immer dir das bringt.«
»Das ist auch Quatsch. Warum sollte es mir Ýwas bringenÜ? Warum muß sich denn immer alles lohnen? Mir ist scheißegal, ob es mir was bringt oder nicht, es macht mir Spaß zu wissen, daß es so was gibt...«
»Da siehst du, wie verschieden wir sind. Du oder Philou, ihr seid nicht in der wirklichen Welt, ihr habt keine Ahnung vom Leben, wie man sich durchschlagen muß, um zu überleben und so. Ich hab vor euch noch nie irgendwelche Intellektuellen gekannt, aber ihr seid genauso, wie ich sie mir immer vorgestellt habe.«
»Und wie hast du sie dir vorgestellt?«
Er wedelte mit den Händen:
»So: Putt putt... Oh ihr kleinen Vögelein und ihr schönen Schmetterlinge! Putt putt, was seid ihr niedlich. Lesen Sie doch noch ein Kapitel, mein Lieber? Aber ja doch, meine Liebe, zwei sogar! Dann bleibt es mir erspart, hinabzusteigen. Oh! Nein! Steigen Sie nicht hinab, dort unten stinkt es zu sehr!«

Sie stand auf und machte die Musik aus.
»Du hast recht, wir werden es nicht schaffen. Es ist besser, du verschwindest. Aber laß mich noch zwei Sachen sagen, bevor ich dir alles Gute wünsche: Erstens, das mit den Intellektuellen. Es ist leicht, sich über sie lustig zu machen. Ja, sehr leicht. Häufig sind sie nicht besonders muskulös, und sie prügeln sich auch nicht gern. Das Stampfen von Stiefeln, Medaillen, große Limousinen kann sie nicht groß bewegen, es ist also nicht sehr schwer. Es genügt, ihnen ihr Buch zu entreißen, ihre Gitarre, ihren Stift oder ihren Fotoapparat, und schon sind sie zu nichts mehr zu gebrauchen, diese unbeholfenen Tolpatsche. Übrigens, das ist das erste, was die meisten Diktatoren machen: Brillen kaputttreten, Bücher verbrennen oder Konzerte verbieten, das kostet sie nicht viel und kann ihnen in der Folge viele Unannehmlichkeiten ersparen. Aber du siehst, wenn intellektuell sein heißt, sich zu bilden, neugierig zu sein und aufmerksam, zu bewundern, erschüttert zu sein, verstehen zu wollen, wie alles zusammenhängt, damit man etwas weniger dumm ins Bett geht als am Abend zuvor, dann fordere ich dies für mich ein: Nicht nur bin ich dann eine Intellektuelle, ich bin auch noch stolz darauf. Sehr stolz sogar. Und weil ich eine Intellektuelle bin, wie du sagst, kann ich nicht umhin, deine Motorradzeitschriften zu lesen, die auf dem Klo rumliegen, und ich weiß, daß die neue BMW R 1200 GS ein kleines elektronisches Teil hat, um mit billigem Benzin zu fahren, jawohl!«
»Was faselst du denn da?«
»Und intellektuell, wie ich bin, habe ich neulich deine Comics von Joe Bar Team stibitzt und den ganzen Nachmittag glucksend darüber verbracht. Zweitens, bist du grad der Richtige, um uns eine Predigt zu halten, mein Lieber. Du glaubst, deine Küche sei die wahre Welt? Von wegen. Im Gegenteil. Ihr kommt ja nie raus, ihr seid immer unter euch. Was kennst du von der Welt? Nichts. Seit mehr als fünfzehn Jahren lebst du eingesperrt in deinen unverrückbaren Arbeitszeiten, deiner kleinen billigen Hierarchie und deinem täglichen Gerödel. Vielleicht hast du dir deine Arbeit deshalb ausgesucht? Um nie den Bauch deiner Mutter zu verlassen und die Sicherheit zu haben, daß du immer im Warmen bist und genug zu essen um dich hast. Wer weiß? Du arbeitest mehr und härter als wir, das ist offensichtlich, aber wir, intellektuell, wie wir sind, wir halsen uns die Welt auf. Putt putt, wir steigen jeden Morgen herab. Philibert in seinen Laden und ich in meine Etagen, und sei ganz unbesorgt, ob wir uns damit auseinandersetzen - wir setzen uns damit auseinander. Und dein Geschwafel vom Überleben... Life is a jungle, struggle for life und diesen ganzen Schwachsinn, den kennen wir auswendig. Wir könnten dir darin sogar Unterricht geben, wenn du willst. So und jetzt guten Abend, gute Nacht und frohes neues Jahr.«

»Pardon?«
»Nichts. Ich hab nur gesagt, daß du nicht sehr plaisirlich bist.«
»Nein, ich bin elegisch.«
»Was heißt das?«
»Schlag in einem Wörterbuch nach, dann weißt duÕs.«
»Camille?«
»Ja.«
»Sag mir was Nettes.«
»Warum?«
»Damit das Jahr gut anfängt.«
»Nein. Ich bin keine Jukebox.«
»Komm schon.«
Sie drehte sich um:
»Laß die Geschirrtücher und das Frottee in derselben Schublade, das Leben ist viel netter mit ein bißchen Chaos.«
»Und ich? Willst du nicht auch, daß ich dir was Nettes sage, damit das Jahr gut anfängt?«
»Nein. Doch. Schieß los.«
»Weißt du... Deine Toasts, die waren absolut phantastisch...«

Teil 31. Kapitel
Es war kurz nach elf, als er am nächsten Morgen in ihr Zimmer kam. Sie kehrte ihm den Rücken zu. Sie saß am Fenster, noch im Kimono.
»Was machst du? Malst du?«
»Ja.«
»Was malst du?«
»Den ersten Tag des Jahres.«
»Zeig mal.«
Sie hob den Kopf und biß sich von innen auf die Wangen, um nicht zu lachen.
Er trug einen extrem unmodischen Anzug, Stil Hugo Boss der achtziger Jahre, etwas zu groß und etwas zu glänzend, mit Schulterpolstern à la Goldorak, ein Hemd aus senffarbener Viskose und eine bunte Krawatte. Die Socken waren auf das Hemd abgestimmt, und die Schuhe aus salmiakbehandeltem Spaltleder ließen ihn fürchterlich leiden.

»Was ist?« grunzte er.
»Nein, nichts, du bist... Du siehst richtig elegant aus.«
»Sehr witzig. Das ist, weil ich meine Großmutter zum Essen ausführe.«
»Na dann...« prustete sie los, »wird sie irre stolz sein, mit so einem gutaussehenden Mann auszugehen.«
»Sehr witzig. Wenn du wüßtest, wie mich das alles streßt. Na ja, das muß sein.«
»GehtÕs um Paulette? Die mit dem Schal?«
»Ja. Darum bin ich auch hier. Hattest du mir nicht gesagt, daß du noch was für sie hast?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.11.2005