17.11.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Und er verschwand Richtung Spind.
»Hat er dir die Maronen erklärt?«
»Ja.«
»Okay, hier sind sie«, fügte er hinzu und zeigte auf einen riesigen Berg.
»Kann ich mich setzen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»In der Küche wird nicht gefragt, hier heißt es Ýja, ChefÜ oder Ýja, MeisterÜ.«
»Ja, Chef.«
Ja, Blödmann. Warum hatte sie sich nur darauf eingelassen? Sie wäre viel schneller, wenn sie sitzen dürfte.
Zum Glück machte eine Kaffeekanne die Runde. Sie stellte ihren Becher ins Regal und machte sich an die Arbeit.

Eine Viertelstunde später - ihr taten schon die Hände weh - sprach sie jemand an:
»Alles in Ordnung?«
Sie sah auf und war sprachlos.
Sie erkannte ihn nicht wieder. Blitzsaubere Hose, tadellos gebügelte Jacke, mit zwei Reihen runder Knöpfe und seinem Namen in aufgestickten blauen Lettern, kleines spitz zulaufendes Tuch, makellos weiße Schürze und Geschirrtuch, eine Kochmütze auf dem Kopf, die wie angegossen saß. Nachdem sie ihn bisher ausschließlich in ausgebeulten Klamotten gesehen hatte, fand sie jetzt, daß er sehr gut aussah.
»Was ist?«
»Nichts. Du siehst sehr gut aus.«

Und er, der große Dummkopf, der Angsthase, der Angeber, der kleine Provinzmatador mit der großen Klappe, der dicken Maschine und den tausend Weibern auf seiner Trophäenliste, ja, genau der konnte nicht umhin zu erröten.
»Das macht bestimmt die Uniform«, fügte sie lächelnd hinzu, um ihn aus seiner Verlegenheit zu erlösen.
»Ja, das... das ist es bestimmt.«
Er zog davon, rannte beinahe einen Kollegen über den Haufen und beschimpfte ihn im Vorbeigehen.
Es wurde nicht geredet. Man hörte nur das Tock-Tock der Messer, das Klapp-Klapp des Eßgeschirrs, das Bumm-Bumm der klappernden Türen und das Telefon, das alle fünf Minuten im Büro des Chefs klingelte.

Camille war fasziniert, einerseits darauf bedacht, sich zu konzentrieren, um sich keinen Anschiß einzufangen, und andererseits den Kopf zu heben, um nichts zu verpassen. Franck sah sie nur von weitem und von hinten. Er wirkte größer und ruhiger als sonst. Ihr war, als würde sie ihn nicht kennen.

Leise fragte sie ihren Kollegen beim Gemüseschälen:
»Wofür ist der Franck zuständig?«
»Wer?«
»Lestafier.«
»Er ist der Soßenkoch und überwacht das Fleisch.«
»Ist das schwer?«
Der Picklige rollte mit den Augen:
»Und wie. Das ist das Schwerste. Nach dem Chef und dem Zweiten ist er die Nummer drei der Brigade.«
»Ist er gut?«
»Ja. Blöd, aber gut. Ich würd sogar sagen, er ist genial. Außerdem wirst du sehen, der Chef fragt lieber ihn als den Zweiten. Den Zweiten überwacht er, Lestafier läßt er machen.«
»Aber...«
»Psst.«

Als der Chef in die Hände klatschte, um die Pause anzukündigen, hob sie mit verzerrtem Gesicht den Kopf. Sie hatte Schmerzen im Nacken, im Rücken, an den Händen, in den Beinen, an den Füßen und anderswo auch noch, sie wußte nur nicht mehr, wo.
»Ißt du mit uns?« fragte Franck.
»Muß ich?«
»Nein.«
»Dann mach ich lieber einen Spaziergang an der frischen Luft.«
»Wie du willst. Alles in Ordnung?«
»Ja. Ganz schön heiß. Ihr schuftet ja wahnsinnig.«
»Machst du Witze? Das hier ist nix! Es sind ja nicht mal Gäste da!«
»Ah ja.«
»Kommst du in einer Stunde wieder?«
»Okay.«
»Geh nicht gleich raus, laß dich erst etwas abkühlen, sonst holst du dir den Tod.«
»Gut.«
»Willst du, daß ich mitkomme?«
»Nein, nein. Ich möchte ganz gern allein sein.«
»Du mußt aber was essen, ja?«
»Ja, Papa.«
Er zuckte mit den Schultern:
»Tzzz.«

Sie holte sich an einer Touri-Bude ein unappetitliches Panini und setzte sich unterm Eiffelturm auf eine Bank.
Philibert fehlte ihr.
Sie wählte die Nummer seines Schlosses auf ihrem Handy.
»Guten Tag, Aliénor de la Durbellière am Apparat«, sagte eine Kinderstimme. »Mit wem habe ich die Ehre?«
Camille war verdattert.
»Eh... Mit... Könnte ich bitte mit Philibert sprechen?«
»Wir sind bei Tisch. Dürfte ich etwas ausrichten?«
»Ist er nicht da?«
»Doch, aber wir sind bei Tisch. Das sagte ich ja bereits.«
»Ach so, ja. Nein, nichts, richten Sie ihm Grüße aus und ein frohes neues Jahr.«
»Rufen Sie mir noch eben Ihren Namen in Erinnerung?«
»Camille.«
»Camille, wie weiter?«
»Mehr nicht.«
»Schön. Auf Wiederhören, Frau Mehrnicht.«
Auf Wiederhören, du Klugscheißerin.
Was sollte das? Was war das für ein Getue?
Der arme Philibert...
»Fünfmal in frisches Wasser?«
»Ja.«
»Dann ist er aber auch sauber!«
»Das gehört sich so.«
Camille brachte Stunden damit zu, den Salat zu waschen und zu putzen. Jedes Blatt mußte umgedreht, der Größe nach sortiert und mit der Lupe inspiziert werden. Solche Blätter hatte sie noch nie gesehen, es gab sie in allen Größen, Formen und Farben.
»Was ist das hier?«
»Portulak.«
»Und das hier?«
»Spinatblätter.«
»Und die?«
»Rucola.«
»Und das?«
»Eiskraut.«
»Oh, was für ein schöner Name.«
»Wo kommst du denn her?« fragte ihr Kollege.
Sie insistierte nicht weiter.
Anschließend putzte sie Küchenkräuter und trocknete sie einzeln mit Küchenpapier ab. Sie legte sie in kleine Auflaufformen aus rostfreiem Metall und verschloß sie sorgfältig mit Frischhaltefolie, bevor sie sie in verschiedene Kühlschränke verteilte. Sie knackte Walnüsse und Haselnüsse, schälte Feigen, rubbelte eine große Menge Pfifferlinge ab und rollte zwischen zwei geriffelten Schabern kleine Butterkügelchen. Sie mußte sehr aufpassen, auf jede Untertasse ein Kügelchen Süßrahmbutter und ein Kügelchen gesalzene Butter zu legen. Einmal war sie sich unsicher und mußte ein Kügelchen mit der Messerspitze probieren. Würg, sie aß überhaupt nicht gern Butter und war anschließend doppelt aufmerksam. Die Kellner verteilten auf Wunsch Espresso, und es war zu spüren, wie der Druck von Minute zu Minute wuchs.

Manche machten den Mund nicht mehr auf, andere fluchten vor sich hin, und der Chef übernahm die Aufgabe einer sprechenden Uhr:
»Siebzehn Uhr achtundzwanzig, meine Herren... Achtzehn Uhr drei, meine Herren... Achtzehn Uhr siebzehn, meine Herren«... Als wäre ihm daran gelegen, sie maximal zu stressen.

Sie hatte nichts mehr zu tun, lehnte sich an ihren Arbeitstisch und hob abwechselnd die Füße hoch, um die Beine zu entlasten. Der Typ neben ihr übte sich darin, neben einer Scheibe Gänseleber auf rechteckigen Tellern mit Soße Arabesken zu formen. Anmutig schüttelte er einen kleinen Löffel und seufzte beim Versuch, eine Zickzacklinie zu kreieren. Es gelang ihm nicht. Dennoch war es schön.
»Was willst du machen?«
»Ich weiß nicht. Was Originelles.«
»Darf ich mal?«
»Nur zu.«
»Ich habe Angst, es zu vermasseln.«
»Nein, nein, mach nur, das ist ein alter Fond, der ist nur zum Üben.«
Die ersten vier Versuche fielen jämmerlich aus, beim fünften Mal hatte sie den Dreh raus.
»He, das ist ja klasse, Mann, kannst du das noch mal machen?«
»Nein«, lachte sie, »ich fürchte, nein. Aber... Habt ihr denn keine Spritzbeutel oder so was?«
»Hm.«
»Kleine Teigspritzen?«
»Doch. Sieh mal in der Schublade nach.«
»Füllst du sie mir?«
»Wozu?«
»Ich hab da eine Idee.«
Sie beugte sich vor und malte mit großer Sorgfalt drei kleine Gänse.
Ihr Kollege holte den Chef, um es ihm zu zeigen.
»Was soll der Quatsch? Wir sind doch hier nicht in Disneyland, Kinder!«
Kopfschüttelnd ging er davon.
Camille zuckte kleinlaut mit den Schultern und kümmerte sich wieder um ihren Salat.
»Das hier ist keine Kochkunst. Das ist Kinderkram«, brummte er am anderen Ende des Raums, »und wißt ihr, was das Schlimmste ist? Was mich wirklich anödet? Die Dummköpfe werden es lieben. Heute wollen die Leute das: Kinderkram! Ach, und außerdem ist heute ein Festtag. Hören Sie, Mademoiselle, tun Sie mir den Gefallen und schmieren Sie mir ihren Hühnerhof auf sechzig Teller. Und zwar dalli dalli, Mädchen!«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.11.2005