15.11.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Oh, fast unmerklich, ein leichtes Aufleuchten, ein kleines Wiedererkennen unter Stammgästen.
»Sind das deine Flügel?« fragte er und zeigte auf ihre Tasche.
»Pardon?«
»Ach nix.«
Einer der Trockner war durchgelaufen, und sie seufzte beim Blick auf die Wanduhr. Ein Penner ging zur Maschine. Er holte eine Jacke und einen ausgefransten Schlafsack heraus.
Jetzt wurde es interessant. Seine Theorie auf die Probe gestellt. Keine normale Frau würde nach einem Penner ihre Sachen in den Trockner stecken, und er wußte, wovon er sprach: Er hatte fast fünfzehn Jahre Waschsalon-Erfahrung hinter sich.
Er erforschte ihr Gesicht.

Nicht das geringste Anzeichen dafür, daß sie zurückschreckte oder stockte, nicht der Ansatz einer Grimasse. Sie stand auf, lud in aller Eile ihre Kleider in die Maschine und fragte ihn, ob er ihr Geld wechseln könne.
Dann kehrte sie an ihren Platz zurück und nahm ihr Buch wieder auf.
Er war ein wenig enttäuscht.
Perfekte Menschen waren etwas Gräßliches...

Bevor sie wieder in die Lektüre eintauchte, sprach sie ihn an:
»Sag mal...«
»Ja?«
»Wenn ich Philibert zu Weihnachten eine Waschmaschine schenke, die auch als Trockner funktioniert, meinst du, du könntest sie anschließen, bevor du ausziehst?«
»...«
»Was lachst du jetzt? Hab ich was Dummes gesagt?«
»Nein, nein.«
Er winkte ab:
»Das verstehst du nicht.«
»He«, sagte sie und klopfte sich mit Zeige- und Mittelfinger auf den Mund, »rauchst du zu viel im Moment, oder was?«

»Im Grunde bist du ganz normal.«
»Warum sagst du das? Natürlich bin ich normal.«
»...«
»Enttäuscht dich das?«
»Nein.«

»Was liest du da?«
»Einen Reisebericht.«
»Gut?«
»Super...«
»Worum gehtÕs da?«
»Ach, ich weiß nicht, ob dich das interessiert.«
»Nee, ich sagÕs ganz offen, es interessiert mich überhaupt nicht«, kicherte er, »aber ich mag es, wenn du erzählst. Übrigens, ich hab mir die CD von Marvin gestern noch mal angehört.«
»Echt?«
»Ja.«
»Und?«
»Tja, das Problem ist, daß ich nix versteh. Drum will ich zum Arbeiten nach London. Um Englisch zu lernen.«
»Wann gehst du?«
»Eigentlich hatte ich einen Platz für nach dem Sommer, aber im Moment ist alles in der Schwebe. Eben wegen meiner Großmutter. Wegen Paulette.«
»Was hat sie denn?«
»Pff... Ich hab keine Lust, darüber zu reden. Erzähl mir lieber von deinem Reisebuch.«
Er rückte mit seinem Stuhl heran.
»Kennst du Albrecht Dürer?«
»Den Schriftsteller?«
»Nein. Den Maler.«
»Nie gehört.«
»Doch, ich bin mir sicher, daß du schon welche von seinen Bildern gesehen hast. Einige sind ganz berühmt. Ein junger Hase, Gräser, Löwenzahn.«
»...«
»Für mich ist er ein Gott... Ich habe zwar mehrere Götter, aber er ist mein Gott Nummer eins. Hast du irgendwelche Götter?«
»Hm.«
»In deinem Beruf? Ich weiß nicht... Escoffier, Carême, Curnonsky?«
»Hm.«
»Bocuse, Robuchon, Ducasse?«
»Ach so, du meinst Vorbilder? Ja, ich hab welche, aber die sind nicht so berühmt, oder weniger berühmt. Weniger im Rampenlicht halt. Kennst du Chapel?«
»Nein.«
»Pacaud?«
»Nein.«
»Senderens?«
»Den Typ vom Lucas Carton?«
»Ja. Wahnsinn, was du alles weißt. Wie machst du das bloß?«
»Moment mal, ich kenn ihn nur so, vom Namen her, ich bin nie dagewesen.«
»Der ist echt gut. Ich hab sogar ein Buch von ihm in meinem Zimmer. Das kann ich dir zeigen. Er und Pacaud, das sind für mich die Meister. Und daß sie weniger bekannt sind als die anderen, liegt daran, daß sie eben in der Küche stehen. Na ja, ich sag das so, keine Ahnung. So stell ich es mir jedenfalls vor. Vielleicht lieg ich auch total daneben.«
»Aber unter Köchen unterhaltet ihr euch doch auch? Erzählt euch von euren Erfahrungen?«
»Nicht so viel. Wir sind nicht sehr geschwätzig, weißt du? Wir sind zu schlapp, um zu quasseln. Wir zeigen uns Sachen, irgendwelche Kniffe, wir tauschen Ideen aus, Rezepte, die wir hier und da aufgeschnappt haben, aber viel weiter geht es meistens nicht.«
»Schade.«
»Wenn wir uns gut ausdrücken könnten, schöne Sätze von uns geben und so was, würden wir diese Arbeit nicht machen, so viel ist klar. Also, ich jedenfalls nicht, ich würd sofort aufhören.«
»Warum?«
»Weil... Es ist idiotisch. Die reinste Sklavenarbeit. Du hast ja gesehen, wie mein Leben aussieht. Total beschissen. Okay... eh... ich red überhaupt nicht gern über mich. Und dein Buch?«
»Tja, mein Buch... ist ein Tagebuch, das Dürer von 1520 bis 1521 auf einer Reise in die Niederlande geführt hat. Eine Art Reisebuch oder Journal. Es ist im übrigen der Beweis dafür, daß ich ziemlich daneben liege, wenn ich in ihm einen Gott sehe. Der Beweis, daß auch er ein ganz normaler Mann war. Der jeden Pfennig umdrehte, der wütend wurde, wenn er feststellte, daß ihn die Zöllner reingelegt hatten, der sich immer wieder von seiner Frau trennte, der sich beim Spielen nicht beherrschen konnte und dabei Geld verlor, der naiv war, gern gut aß, ein Macho und auch ein bißchen dünkelhaft. Aber okay, das alles ist nicht so wichtig, im Gegenteil, das macht ihn menschlicher. Und... hm... Willst du noch mehr hören?«
»Ja.«
»Eigentlich ist es eine Reise, die er aus einem ziemlich ernsten Grund angetreten hat, nämlich um sein Überleben zu sichern, das seiner Familie und der Leute, die mit ihm in seinem Atelier gearbeitet haben. Bis dahin hatte er unter dem Schutz Kaiser Maximilians I. gestanden. Einem Kerl, der total größenwahnsinnig war und ihm einen verrückten Auftrag erteilt hatte: Er sollte ihn am Kopf eines Triumphzugs darstellen, um ihn für immer unsterblich zu machen. Ein Werk aus mehreren Holzschnitten, von denen Jahre später schließlich ein Abdruck gemacht wurde und das mehr als vierundfünfzig Meter lang ist. Kannst du dir das vorstellen?
Für Dürer war das ein Segen. Jahrelange gesicherte Arbeit. Unglücklicherweise kratzt Maximilian kurze Zeit später ab, und schon sind seine jährlichen Einkünfte gefährdet. Katastrophe. Deshalb macht sich unser Mann also mit seiner Frau und der Dienerin im Schlepptau auf den Weg, um Karl V., dem künftigen Kaiser, und Margarete von Österreich, der Tochter seines ehemaligen Schutzherrn, um den Bart zu gehen, denn diese Einkünfte müssen unbedingt weiter fließen.
So weit die Situation. Deshalb ist er am Anfang etwas gestreßt, was ihn aber nicht davon abhält, ein perfekter Tourist zu sein. Er begeistert sich für alles, die Gesichter, die Sitten, die Kleider, besucht seinesgleichen, die Handwerker, bewundert ihre Arbeit, besucht alle Kirchen, kauft eine ganze Menge Nippes, frisch aus der Neuen Welt importiert: einen Papagei, einen Pavian, ein Stück Schildkrötenpanzer, Korallenstöcke, Zimt, einen Elchhuf etc. Er ist wie ein kleines Kind. Er macht sogar einen Umweg, um einen gestrandeten Wal zu sehen, der am Nordseestrand verwest. Und natürlich malt er. Wie ein Verrückter. Er ist fünfzig, er ist auf dem Höhepunkt seines Schaffens, und egal, was er macht: einen Papagei, einen Löwen, ein Walroß, einen Leuchter oder das Porträt seines Gastwirts, es ist... es ist...«
»Es ist was?«
»Hier, sieh selbst.«
»Nee, nee, davon versteh ich nix!«
»Da gibt es nichts zu verstehen! Sieh dir den Alten an, wie beeindruckend der ist. Und diesen schönen jungen Mann, siehst du, wie stolz er ist? Wie selbstsicher er aussieht? Man könnte glatt meinen, das wärst du, die gleiche Überheblichkeit, die gleichen weiten Nasenlöcher...«
»Ach, tatsächlich? Findest du, daß er gut aussieht?«
»Ein leichtes Backpfeifengesicht, oder?«
»Das macht der Hut.«
»Ah ja, du hast recht«, lächelte sie, »das muß der Hut sein. Und seine Visage? Ist die nicht irre? Man meint doch, daß er uns verhöhnt, daß er uns provoziert: ÝHe, Leute. Das ist es, was euch erwartet...Ü«
»Zeig mal.«
»Hier. Aber was mir am besten gefällt, sind seine Porträts, und was mich echt umhaut, ist die Ungeniertheit, mit der er sie malt. Hier auf der Reise ist es vor allem Tauschwährung, nichts anderes als Naturalienhandel: dein Können gegen meins, dein Porträt für ein Abendessen, einen Rosenkranz, ein Kinkerlitzchen für meine Frau und einen Mantel aus Kaninchenfell. Ich hätte liebend gern in dieser Zeit gelebt. Ich halte den Naturalienhandel für eine geniale Wirtschaftsform.«
»Und wie geht es aus? Kriegt er seine Flocken?«
»Ja, aber zu welchem Preis. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.11.2005