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Nichts Nennenswertes bei der Arbeit. Die Kälte, wenn sie gestempelt hatte, war noch am schwersten zu ertragen.
Sie ging allein nach Hause, aß allein, schlief allein und hörte Vivaldi, die Arme um die Knie geschlungen.

Camille hatte Pläne für Silvester. Sie hatte überhaupt keine Lust, hinzugehen, hatte ihre dreißig Euro Eintrittsgeld aber längst bezahlt, um ihre Ruhe zu haben und nicht ständig belatschert zu werden.
»Du mußt ausgehen«, schimpfte sie mit sich.
»Aber ich geh nicht gern aus.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Hast du Angst?«
»Ja.«
»Wovor?«
»Ich habe Angst, daß zuviel Bodensatz aufgewirbelt wird. Und außerdem... hab ich auch das Gefühl auszugehen, wenn ich mich in meinem Innern verlaufe. Ich gehe spazieren. Dort ist es ganz schön groß.«
»Machst du Witze? Es ist winzig klein! Komm schon, dein Bodensatz riecht schon ranzig.«

Solcherart Unterhaltung zwischen sich und ihrem armen Gewissen zerrte stundenlang an ihrem Verstand.

Als sie an diesem Abend nach Hause zurückkehrte, fand sie ihn auf dem Treppenabsatz:
»Hast du deinen Schlüssel vergessen?«
»...«
»Wartest du schon lange?«
Er zeigte trotzig auf seinen Mund, um ihr in Erinnerung zu rufen, daß er nicht sprechen durfte. Sie zuckte mit den Schultern. Aus dem Alter für solche Spielchen war sie heraus.
Er legte sich schlafen, ohne zu duschen, ohne zu rauchen, ohne sie auch nur ansatzweise zu ärgern. Er war völlig erledigt.

Am nächsten Morgen kam er gegen halb elf aus seinem Zimmer, er hatte den Wecker nicht gehört und besaß nicht einmal die Kraft zu motzen. Sie war in der Küche, er setzte sich ihr gegenüber, nahm sich einen Liter Kaffee und brauchte eine Weile, bis er sich dazu durchringen konnte, ihn zu trinken.
»Alles in Ordnung?«
»Müde.«
»Machst du nie Urlaub?«
»Doch. Die ersten Januartage. Für meinen Umzug.«
Sie sah aus dem Fenster.

»Bist du um drei Uhr da?«
»Um dir aufzumachen?«
»Ja.«
»Ja.«
»Gehst du nie raus?«
»Doch, kommt schon vor, aber heute nachmittag gehe ich nicht raus, weil du hier sonst nicht reinkommst.«
Er nickte wie ein Zombie:
»Okay, ich muß los, sonst werd ich einen Kopf kürzer gemacht.«
Er stand auf, um seine Schale zu spülen.
»Was hat deine Mutter für eine Adresse?«
Er erstarrte vor der Spüle.
»Warum fragst du?«
»Um ihr zu danken.«
»Ihr... zzzzu...« er hatte einen Frosch im Hals, »ihr zu danken, wofür?«
»Na, für den Schal.«
»Ach so. Aber den hat doch nicht meine Mutter gemacht, sondern meine Omi!« belehrte er sie erleichtert, »nur meine Omi kann so gut stricken!«
Camille lächelte.
»Du mußt ihn nicht anziehen, weißt du?«
»Er gefällt mir gut.«
»Ich bin richtig zusammengezuckt, als sie ihn mir gezeigt hat.«

Er lachte.
»Und dabei ist das noch gar nix. Wenn du den für Philibert sehen würdest.«
»Wie ist der?«
»Orange und grün.«
»Ich bin sicher, er wird ihn tragen. Er wird es nur bedauern, daß er ihr zum Dank keinen Handkuß geben kann.«
»Ja, das habe ich auch gedacht, als ich gefahren bin. Zum Glück sind die Sachen für euch. Ihr zwei seid die einzigen Menschen auf dieser Welt, die imstande sind, diese häßlichen Dinger zu tragen, ohne dabei lächerlich zu wirken.«
Sie betrachtete ihn:
»Ha, ist dir aufgefallen, daß du gerade was Nettes gesagt hast?«
»Ist es nett, euch als Clowns zu bezeichnen?«
»Oh Pardon. Ich dachte, du sprichst von unserer natürlichen Klasse...«
Es dauerte einen Moment, bis er ihr antwortete:
»Nein, ich spreche von... von eurer Freiheit, glaube ich. Von dem Glück, das ihr habt, für euch zu leben und auf alles andere zu pfeifen.«
In dem Moment klingelte sein Handy. Sie hatte kein Glück, wenn er ausnahmsweise einmal ins Sinnieren geriet.

»Bin schon da, Chef, bin schon da... Aber klar doch, ich bin fertig... Na ja, die kann Jean-Luc doch machen, oder... Moment mal, Chef, ich versuche gerade ein Mädchen rumzukriegen, das deutlich intelligenter ist als ich, ist doch klar, daß das mehr Zeit braucht als sonst... Was? Nee, da hab ich noch nicht angerufen... Aber ich hab Ihnen doch schon gesagt, daß der nicht kann... Ich weiß, daß alle überlastet sind, das weiß ich... Okay, ich kümmer mich drum... Ich ruf ihn gleich an... Was? Das Mädchen sausen lassen? Ja, Sie haben bestimmt recht, Chef.«

»Das war mein Chef«, erklärte er ihr und warf ihr ein schiefes Lächeln zu.
»Ach ja?« fragte sie erstaunt.
Er trocknete seine Kaffeeschale ab, zog von dannen und fing die Tür gerade so weit ab, daß sie nicht knallte.

Schön, das Mädchen war blöd, aber ganz und gar nicht dumm, das war das Gute.

Bei jeder anderen Tussi hätte er aufgelegt und fertig. Aber ihr hatte er gesagt, es sei sein Chef, um sie zum Lachen zu bringen, und sie war so gewitzt, darauf anzuspringen und erstaunt zu tun. Eine Unterhaltung mit ihr war wie Pingpong: Sie hielt das Tempo und schmetterte die Bälle in die Ecken, wenn man am wenigsten darauf gefaßt war, das gab einem das Gefühl, weniger blöd zu sein.
Er rannte die Treppe hinunter, hielt sich dabei am Geländer fest und hörte über seinem Kopf die Räder und das Getriebe quietschen. Mit Philibert war es genauso, er unterhielt sich gerne mit ihm.
Er wußte nämlich, daß er gar nicht so doof war, wie er aussah, sein Problem waren eben die Wörter. Ihm fehlten immer die Wörter, deshalb mußte er laut werden, um sich verständlich zu machen. Stimmt schon, das war total beschissen, verdammt!

Aus all diesen Gründen tat es ihm leid, hier auszuziehen. Was würde er bei Kermadec machen? Picheln, rauchen, sich DVDs reinziehen und auf dem Klo in Motorradzeitschriften blättern.
Super.
Zurück auf zwanzig.

Zerstreut versah er seinen Dienst.
Das einzige Mädchen im ganzen Universum, das in der Lage war, einen Schal zu tragen, den seine Oma gestrickt hatte, und dabei noch gut auszusehen, würde er nie haben können.
Das Leben war schon ätzend.

Er sah noch mal bei den Dessertköchen vorbei, bevor er ging, fing sich einen Anpfiff ein, weil er seinen ehemaligen Lehrling noch immer nicht angerufen hatte, und ging nach Hause, um zu schlafen.

Er schlief nur eine Stunde, weil er in den Waschsalon mußte. Er suchte seine Klamotten zusammen und steckte sie in seinen Bettbezug.

15. Kapitel
Nicht zu fassen.
Sie war ebenfalls da. Saß vor der Maschine Nummer sieben, ihre Tasche mit nasser Wäsche zwischen den Beinen, und las.

Er setzte sich ihr gegenüber, ohne daß sie ihn bemerkte. Es faszinierte ihn immer wieder. Wie sie und Philibert sich konzentrieren konnten. Das erinnerte ihn an einen Werbespot, einen Typen, der in aller Seelenruhe seinen Boursin aß, während die Welt um ihn herum einstürzte. Ihn erinnerte vieles an Werbespots. Das lag bestimmt daran, daß er als kleiner Junge so viel ferngesehen hatte.

Er spielte ein kleines Spielchen: Stell dir vor, du betrittst an einem 29. Dezember gegen fünf Uhr nachmittags diesen versifften Waschsalon in der Avenue de La Bourdonnais und siehst diese Gestalt zum ersten Mal in deinem Leben, was würdest du sagen?

Er versenkte sich tief in seinen Plastiksitz, steckte die Hände in die Jackentaschen und kniff die Augen zusammen.

Zuerst würdest du denken, ein Typ. Wie beim ersten Mal. Keine Tunte zwar, aber zumindest ein ziemlich femininer Typ. Du würdest also aufhören, nach ihm zu schielen. Obwohl... Du hättest trotz allem deine Zweifel. Aufgrund der Hände, des Halses, der Art, mit dem Daumen über die Unterlippe zu streichen. Ja, du würdest stutzen. War es am Ende vielleicht doch ein Mädchen? Ein Mädchen, das in einem Zelt steckte? Als wollte sie ihren Körper verstecken? Du würdest versuchen, woandershin zu schauen, aber du müßtest sie immer wieder anstarren. Weil sie etwas hatte. Eine besondere Aura. Oder war es vielleicht das Licht?
Genau. Das warÕs.
Wenn du an einem 29. Dezember diesen versifften Waschsalon in der Avenue de La Bourdonnais betreten und im tristen Licht der Neonlampen diese Gestalt sehen würdest, würdest du dir genau das sagen: Ein Engel...

In dem Moment sah sie auf, erblickte ihn, verharrte einen Moment reglos, als hätte sie ihn nicht erkannt, und fing schließlich an zu lächeln.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.11.2005