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Viele kommentierten den Einsatz und analysierten ihren Auftritt: Was sie vermasselt hatten und warum, wessen Schuld es gewesen war, und wie gut die Sachen gelungen waren. Wie Sportler, die noch dampften, konnten sie nicht abschalten und beackerten mit aller Kraft ihren Platz, um ihn auf Hochglanz zu polieren. Sie hatte den Eindruck, daß sie damit Dampf abließen, um nicht ganz dabei draufzugehen.

Camille half ihnen bis zum Schluß. Sie kauerte vor einem Kühlschrank und wischte ihn von innen aus.
Dann lehnte sie sich an die Wand und beobachtete das Gedränge der Jungs um die Kaffeemaschinen. Einer schob einen riesigen Wagen mit göttlichen Leckereien herein, Pralinen, Schaumzucker, Konfitüren, Mini-Cannelés, Madeirasoße und so weiter. Hmm, sie hatte Lust auf eine Zigarette.

»Du kommst zu spät zu deinem Fest.«
Sie drehte sich um und sah einen alten Mann.
Franck bemühte sich, die Fassung zu bewahren, aber er war am Ende, verschwitzt, gekrümmt, aschfahl, er hatte rote Augen und sah mitgenommen aus.
»Du siehst um zehn Jahre gealtert aus.«
»Schon möglich. Ich bin todmüde. Hab schlecht geschlafen, und außerdem mag ich diese Festessen nicht. Immer dieselbe Leier. Soll ich dich in Bobigny absetzen? Ich hab noch einen zweiten Helm. Ich muß nur noch meine Bestellungen abgeben, dann können wir los.«
»Nein, mir ist überhaupt nicht mehr danach. Die sind bestimmt alle sternhagelvoll, bis ich ankomme. Das Schöne ist doch, sich gemeinsam mit den anderen zu betrinken, sonst ist es nur deprimierend.«
»Nein, ich will auch lieber nach Hause, ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.«

Sébastien unterbrach sie:
»Wir warten noch auf Marco und Kermadec und treffen uns unten?«
»Nee, ich bin kaputt. Ich geh nach Hause.«
»Und du, Camille?«
»Sie ist auch kap...«
»Überhaupt nicht«, fiel sie ihm ins Wort, »das heißt, doch, aber ich habe trotzdem Lust zu feiern!«
»Bist du sicher?« fragte Franck.
»Na klar, wir müssen doch das neue Jahr begrüßen. Auf daß es besser wird als das alte, oder?«
»Ich dachte, du hättest keinen Bock auf Fete.«
»Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern. Das hier ist mein erster guter Vorsatz fürs neue Jahr: Ý2003 war alles einerlei, 2004 gönn ich mir ein Plaisir!Ü«
»Wohin gehn wir?« fragte Franck seufzend.
»Zu Ketty.«
»Ach nee, nicht dahin. Du weißt doch.«
»Okay, dann halt zu La Vigie.«
»Da auch nicht.«
»He ho, Lestafier, du nervst. Nur weil du alle Bedienungen im Umkreis abgeschleppt hast, können wir nirgendwo mehr hin! Welche warÕs denn bei Ketty? Die Dicke, die gelispelt hat?«
»Die hat nicht gelispelt!« gab Franck entrüstet zurück.
»Nee, besoffen hat sie ganz normal geredet, aber nüchtern hat sie gelispelt, sag ich dir. Okay, aber egal, die arbeitet nicht mehr da.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Und die Rothaarige?«
»Die auch nicht. He, aber das kann dir doch egal sein, du bist doch jetzt mit ihr zusammen, oder?«
»Nix da, er ist doch nicht mit mir zusammen!« Camille war empört.
»Gut... eh... Macht ihr das unter euch aus, wir sind jedenfalls da, sobald wir hier fertig sind.«

»Willst du noch mitkommen?«
»Ja. Aber ich würd gern vorher duschen.«
»Okay. Ich wart auf dich. Ich geh jetzt nicht in die Wohnung, sonst brech ich zusammen.«
»Du?«
»Was?«
»Vorhin hast du mir kein Küßchen gegeben...«
»Bitte schön«, sagte sie und drückte ihm ein Küßchen auf die Stirn.
»Ist das alles? Ich dachte, 2004 gönnst du dir ein Plaisir?«
»Hast du dich schon mal an deine Vorsätze gehalten?«
»Nein.«
»Ich auch nicht.«

19. Kapitel
Weil sie weniger erschöpft war als die anderen oder weil sie den Alkohol besser vertrug, mußte sie bald etwas anderes als Bier bestellen, um mit den Witzen Schritt halten zu können. Sie hatte das Gefühl, zehn Jahre zurückversetzt worden zu sein, in eine Zeit, da ihr gewisse Dinge noch selbstverständlich vorkamen. Die Kunst, das Leben, die Zukunft, ihr Talent, ihr Schatz, ihr Platz, ihr Serviettenring hier unten und der ganze Quark.
Meine Güte, so unangenehm war es doch gar nicht.

»He, Franck, trinkst du heut abend nix?«
»Ich bin tot.«
»Komm schon, du doch nicht. Hast du nicht jetzt sogar Urlaub?«
»Doch.«
»Und?«
»Ich werd alt.«
»Los, trink. Schlafen kannst du morgen.«

Halbherzig hielt er sein Glas hin: Nein, morgen würde er nicht schlafen. Morgen würde er in die Wiedergefundene Zeit fahren, dem Tierschutzverein für die Alten, mit zwei oder drei einsamen Omis, die mit ihrem Gebiß klapperten, gräßliche Pralinen futtern, während seine eigene seufzend aus dem Fenster sah.
Sobald er auf die Autobahn bog, hatte er Bauchschmerzen.
Er wollte lieber nicht daran denken und leerte sein Glas in einem Zug.
Verstohlen betrachtete er Camille. Ihre Sommersprossen waren je nach Uhrzeit zu sehen oder nicht, ein seltsames Phänomen.
Sie hatte gesagt, er sähe gut aus, und jetzt war sie dabei, den großen Knallkopf da anzubaggern, pff... sie waren alle gleich.

Franck Lestafier hing irgendwie durch.
Ihm war zum Heulen.
Na? Ist was nicht in Ordnung, Großer?

Eh... Wo soll ich anfangen?
Ein blöder Job, ein noch blöderes Leben, eine Oma im Westen und ein Umzug in Aussicht. Wieder auf einem ramponierten Schlafsofa pennen, in jeder Pause eine Stunde verlieren. Nie mehr Philibert sehen. Ihn nie mehr provozieren, damit er lernt, sich zu wehren, zurückzuschlagen, sich aufzuregen, sich schließlich durchzusetzen. Ihn nie wieder mein Zuckersüßer nennen. Ihm nie wieder was Gutes zu essen auf die Seite packen. Nie mehr mit seinem königlichen Bett und seinem Prinzessinnenbad bei den Weibern Eindruck schinden. Nie mehr den beiden lauschen, ihm und Camille, wie sie über den Ersten Weltkrieg redeten, als wären sie dabeigewesen, oder über Ludwig XI., als hätte er ein Gläschen mit ihnen getrunken. Nie wieder auf sie warten, nie wieder die Nase in die Luft strecken, wenn er die Tür aufschloß, um am Zigarettengeruch zu erkennen, ob sie schon da war. Sich nie wieder auf ihr Skizzenheft stürzen, sobald sie ihm den Rücken gekehrt hatte, um die neuesten Zeichnungen zu bestaunen. Nie wieder beim Einschlafen den angestrahlten Eiffelturm sehen, der über ihn wachte. Und dann in Frankreich bleiben, bei jeder Schicht ein Kilo verlieren, das er hinterher in Bier wieder ansetzte. Weiterhin gehorchen. Immer. Die ganze Zeit. Was anderes hatte er noch nie gemacht. Und jetzt saß er fest, bis... Los, sag schon, bis wann, sag schon! Ja genau, so ist es... Bis sie ins Gras beißt. Als würde ihr Leben nur in Ordnung kommen, wenn er noch mehr litt.
Verflucht, es reicht! Könnt ihr euch nicht einen anderen aussuchen? Ist doch wahr, ich bin bedient.
Meine Stiefel sind voller Scheiße, Leute, guckt doch mal nach, ob ich nicht woanders bin. Schnauze voll. Ich hab genug geblecht.


Sie gab ihm unterm Tisch einen Tritt:
»He, alles in Ordnung?«
»Frohes, neues Jahr«, sagte er.
»Stimmt was nicht?«
»Ich geh schlafen. Tschüß.«

20. Kapitel
Sie blieb auch nicht mehr lange. Diese Typen waren nicht gerade die hellsten... Sie wiederholten in einem fort, was für eine beschissene Arbeit sie hatten... he... und zu Recht. Und außerdem fing dieser Sébastien an, ihr auf die Pelle zu rücken. Wenn er eine Chance hätte haben wollen, mit ihr zu schlafen, hätte er gleich heute morgen nett zu ihr sein müssen, der Blödmann. Daran erkennt man die wirklich Guten: daß sie schon nett sind, bevor sie daran denken, einen flachzulegen...

Sie fand ihn zusammengekauert auf dem Kanapee.
»Schläfst du?«
»Nein.«
»Stimmt was nicht?«
»2004 verschwind ich von hier«, stöhnte er.
Sie lächelte:
»Sehr gut.«
»Von wegen, seit drei Stunden such ich nach dem passenden Reim. Ich hab schon überlegt: 2004 bin ich voller Bier, aber du würdest wahrscheinlich meinen, daß ich gleich kotze...«
»Was für ein wunderbarer Dichter du bist.«
Er schwieg. Er war zu müde, um mitzuspielen.
»Leg uns noch mal so schöne Musik auf wie neulich.«
»Nein. Wenn du schon traurig bist, bringt das nichts.«
»Wenn du deine Castafiore auflegst, bleibst du dann noch ein bißchen?«(wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.11.2005