07.11.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Jörg Schönbohm

»Wir haben die Integration lange nicht ernst genug genommen.«

Leitartikel
Explosives Gemisch

Frankreich
liegt auch
uns sehr nah


Von Friedhelm Peiter
Die seit Jahren immer wieder aufflammenden Unruhen in den Vorstädten der französischen Metropolen sind nun erstmals zu einem Flächenbrand geworden. Wundern sollte sich über diese Entwicklung niemand.
In diese »Banlieues«, gebaut in den 60er und 70er Jahren, zogen Arbeiter und Angestellte und Zuwanderer aus Nordafrika. In den Zeiten wirtschaftlichen Wachstums gab es Arbeit für diese Menschen. Ethnische und religiöse Unterschiede spielten keine nennenswerte Rolle.
Erst als in den 80er Jahren der Anteil moslemischen Einwanderer aus Nord- und Schwarzafrika in diesen Vorstädten immer weiter stieg, gefördert durch eine großzügige französische Einwanderungspolitik, begann der Exodus der Gutverdienenden. Alteingessesene und zugewanderte Franzosen zogen in bessere Gegenden. Diese Entwicklung hält bis heute an. Zurück blieb ein Bodensatz von Alten, Arbeitslosen und Jugendlichen ohne eine Perspektive für ihr späteres Leben.
So entstanden in Paris, Marseille, Lyon und anderen Städten regelrechte Gettos - muslimisch-afrikanisch geprägte Viertel -, weit weg vom »weißen Frankreich«, weit entfernt von der Möglichkeit, diesen Gettos zu entfliehen.
Seit Jahren versuchen sozialistisch und konservativ geprägte Regierungen mit gut gemeinten Programmen die Situation zu entschärfen. Derzeit läuft ein solches Programm, ausgestattet mit fast 13 Milliarden Euro, Langzeitarbeitslosen und Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz zu helfen. Die Erfolge sind einem Land, dessen Jugendarbeitslosigkeit doppelt so hoch ist wie in Deutschland, kaum messbar. In den Problemvierteln hat sich nichts zum Besseren gewendet.
In einer solchen Situation entsteht dieses explosive Gemisch, dass durch den Tod zweier Jungen jetzt zur Entladung gekommen ist. Frustrierte Jugendliche lassen ihre Wut auf den Staat an Autos, Gebäuden und auch an Menschen aus. Kriminelle Jugendbanden liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Sie wollen den rechtsfreien Raum in den Gettos erhalten. Ihre Botschaft lautet: Die französische Obrigkeit hat in unseren Vierteln nichts verloren.
Innenminister Nicolas Sarkozy gießt mit Sätzen wie »Dieses Gesindel muss mit Hochdruckreinigern beseitigt werden« weiter Öl ins Feuer. Sarkozy, der Staatspräsident werden will, weiß, dass er mit solchen Parolen weite Teile des »weißen Frankreichs« erreicht, auch wenn dies kaum jemand laut sagt.
Deutschland sollte sehr aufmerksam nach Frankreich schauen. Denn Deutschland hat in der Vergangenheit so viele Zuwanderer wie kein anderes Land aufgenommen. Zwar gibt es hier keine Gettos dieser Größe, doch es gibt eine besorgniserregende Entwickung zu Parallelgesellschaften auch hierzulande. Der Nährboden für Proteste ist da. Beiderseitige Integrationsanstrengungen sind zwingend notwendig, außerdem eine Einwanderungspolitik mit Augenmaß und eine konsequente Anwendung des Ausländerrechts.

Artikel vom 07.11.2005