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Neuer Höhepunkt der Gewalt in Frankreich

Unruhen dehnen sich weiter aus - 500 Festnahmen

Paris (dpa). Zehn Tage nach Beginn der nächtlichen Anarchie in französischen Einwanderervorstädten haben die Unruhen ganz Frankreich erfasst. Die Staatsmacht sah sich dem Flächenbrand trotz eines Großeinsatzes der Polizei und weit mehr als 500 Festnahmen binnen zwei Tagen hilflos gegenüber.

An dem »schwarzen Wochenende« gingen nach Polizeiangaben wieder 2400 Autos und ungezählte Gebäude vom Kindergarten bis zum Krämerladen in Flammen auf. Premierminister Dominique de Villepin empfing Vertreter der muslimischen Gemeinde, Sozialarbeiter und Polizisten, um einen Plan für die Sanierung der Vorstädte vorzubereiten. Erstmals war gestern auch Paris stärker betroffen.
Friedensappelle der Regierung, muslimischer Würdenträger und der Eltern zweier Jungen, deren Unfalltod die Unruhen ausgelöst hatten, verhallten ungehört. Allein in der Nacht zum Sonntag gab es 1300 Brandstiftungen. Dabei verdoppelte sich die Zahl der Anschläge in den Regionen fernab der Hauptstadt auf 554. Präsident Jacques Chirac hat Sonntag Abend die »Wiederherstellung der Sicherheit und Öffentlichen Ordnung« zur Priorität erklärt. Um die Krise zu beheben, seien die Achtung des Einzelnen, Gerechtigkeit und Chancengleichheit nötig, sagte er nach einer Sondersitzung des Sicherheitskabinetts in Paris. Noch während das Sicherheitskabinett tagte, gingen in Nantes, Rennes und Orléans wieder Autos in Flammen auf.
Reizfigur der Aufrührer ist Innenminister Nicolas Sarkozy, der angekündigt hatte, er wolle die sozialen Brennpunkte von »Gesindel säubern«. Sozialistenchef Francois Hollande gab Sarkozy eine Mitschuld an der Eskalation. Er verzichtete aber ausdrücklich auf eine Rücktrittsforderung. »Jetzt den Rücktritt zu fordern hieße, den Randalierern Recht zu geben«, sagte ein Parteisprecher.
In der Bevölkerung kommt Sarkozys harte Gangart offensichtlich weiter gut an. Nach einer Umfrage der Sonntagszeitung »Journal du Dimanche« bescheinigen ihm 57 Prozent der Befragten ein gutes Ansehen. An den sozialen Brennpunkten äußern aber auch viele Bürger, die die Gewalt verurteilten, Verständnis für den Unmut der Jugendlichen auf Sarkozy.
In Paris wurden 51 Autos am Platz der Republik und im 17. Arrondissement beschädigt. 30 Gewalttäter wurden festgenommen. Anschläge gab es in allen Regionen vom Ärmelkanal und dem Elsass über das Zentralmassiv bis nach Nizza an der Côte d'Azur. Meist scheuten die Randalierer die Konfrontation mit der Polizei. Doch in Evreux, 40 Kilometer westlich von Paris, zerstörten Banden von Vermummten ein Einkaufszentrum und lieferten sich eine regelrechte Schlacht mit den Sicherheitskräften. Dabei gab es zahlreiche Verletzte sowie Plünderungen. Anwohner berichteten, sie hätten sich in ihren Wohnungen verbarrikadiert.
Die meisten Täter stammen aus muslimischen Einwandererfamilien aus Nord- und Schwarzafrika. Gemeindevertreter teilten die Randalierer in zwei Gruppen: 13- bis 15-jährige Mitläufer und wesentlich ältere, meist vorbestrafte Anführer, die die Gewalt organisieren. Engagierte Bürger aus den betroffenen Vierteln versuchten, den Jugendlichen Einhalt zu gebieten. In mehreren Orten gab es Kundgebungen gegen die Gewalt.
SPD und Union wollen Unruhen wie in Frankreich durch zusätzliche Anstrengungen bei der Integration von Zuwanderern verhindern. »Auch wenn die gesellschaftliche Realität bei uns anders ist, sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, dass so etwas wie in Frankreich bei uns nicht geschehen könnte«, sagte CDU-Sicherheitsexperte Wolfgang Bosbach. Leitartikel

Artikel vom 07.11.2005