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»Wäre man satt, bräuchte man diesen Beruf nicht auszuüben«

Die Radprofis Jörg Ludewig und Malte Urban über Glück, Zufall und Karriere

Bielefeld (WB). Bis 2003 fuhren sie auf Augenhöhe: Malte Urban und Jörg Ludewig, zwei Ostwestfalen in der höchsten Klasse des Welt-Radrennsports. Seitdem entwickelten sich die Karrieren der Trainingspartner, Freunde und Kollegen völlig unterschiedlich. Der Herforder ist wieder bei den Querfeldeinfahrern, der Steinhagener strampelt sich künftig für das Vorzeigeteam »T-Mobile« ab. Im Gespräch mit Sportredakteur Hans Peter Tipp beurteilen beide ihren Werdegang.

Was ist anders gelaufen in den vergangenen Jahren?Jörg Ludewig: Im Radsport liegen gut und schlecht, Erfolg und Misserfolg so nah beieinander. Da muss man einfach ein bisschen Glück haben. Davon habe ich die letzten zwei, drei Jahre viel gehabt. Malte hat dagegen bei Coast völlig falsch gelegen. Aber er hat aus seinem Fehlgriff einen deutschen Meistertitel gemacht. Das verdient viel Hochachtung.
Malte Urban: Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Standort sein. Jörg ist in Italien zu einem etablierten Team gestoßen und hat sich durchgebissen. Ich war in Deutschland bei einem Team, das binnen kürzester Zeit ganz nach oben kam und ebenso schnell abstürzte, weil es unseriös geführt wurde. Aber natürlich ist es nicht nur Glück allein. Auch als Radsportler ist man seines eigenen Glückes Schmied.

Aber Sie waren beide in der »Ersten Liga« angekommen - warum hat sich das so auseinander entwickelt? Malte Urban: Jörg konnte in Ruhe arbeiten und hat sich kontinuierlich weiter steigern können, ohne jeden Tag den Druck der Existenzsicherung zu spüren. Aus diesem Glück hat er etwas gemacht. Ich bin dagegen bei Coast und Bianchi zwei Jahre lang Rennen gefahren, ohne mich überhaupt auf das Sportliche konzentrieren zu können.
Jörg Ludewig: Ich habe viele richtige Leute zur richtigen Zeit getroffen und ein gutes Standing in Ostwestfalen hinbekommen. Aber das lag auch daran, weil mir viele Leute die Bälle zugespielt haben. Ich musste sie nur noch ins Tor schießen. Glück? Sicher, doch ich habe auch was dafür getan. Aber manchmal macht man viel und nichts bleibt hängen. Wie bei Malte.

Wenn die Zeit für andere Dinge fehlt, und Glück oder Zufall eine solch große Rolle spielen: Ist der Profiradsport ein faires Geschäft?Jörg Ludewig: Malte hat es eben schon gesagt: Jeder ist seines Glückes Schmied. Und wenn ich teilweise höre, was in anderen Berufen abgeht: Mobbing oder so was, dann bin ich froh, dass ich mein eigener Herr bin. Da sollte man froh sein, dass man so einen tollen Beruf hat und sein Hobby zum Beruf machen konnte.
Malte Urban: Wenn du Rennen gewinnst in deiner Mannschaft, dann bist du interessant - für Sponsoren, für andere Teams. Wenn nicht, dann eben nicht. So ist das Geschäft. Deshalb kann man schon sagen: Die besten Rennfahrer finden immer wieder Verträge. Am oberen Ende der Skala zählt eindeutig die Leistung. Wenn du aber nicht oben bist, dann brauchst du Leute, die sich für dich einsetzen, die sagen, nimm' den mal mit, oder gib jenem eine Chance. Wenn du solche Fürsprecher nicht hast, geht es nur über 'Vitamin B' oder Glück.

Ihr Weg, Jörg Ludewig, verlief gradlinig: Haben Sie mal dran gedacht, wie gut es gelaufen ist?Jörg Ludewig: Als motivierter, relativ junger Sportler setzt du dir immer wieder neue Ziele. Es ist nie gut genug. Du willst immer einen Schritt weiter. Erst war es mein Traum, Profi zu werden. Dann wollte ich ein guter Profi werden, danach ein Mal bei der Tour fahren. Jetzt träume ich davon, mit Jan Ullrich die Tour zu fahren oder eine Etappe zu gewinnen. Man ist nie satt. Wäre man es, bräuchte man den Sport nicht mehr auszuüben. Als Leistungssportler mit 32 000 Radkilometern, 30 000 im Auto und 40 bis 50 Flügen im Jahr bist du so mit dir selbst beschäftigt, da bleibt - so böse sich das anhören mag - relativ wenig Zeit, sich um andere Dinge und andere Leute zu kümmern. Man ist froh, wenn man die allerwichtigsten sozialen Kontakte aufrecht erhält.

Herr Urban, für Sie ging es von der Straße zurück ins Gelände. Haben Sie lange gebraucht, um das zu akzeptieren?Malte Urban: Es hat mit Sicherheit anderthalb Jahre gedauert, neue Motivation zu finden. Meine Karriere war ja eigentlich zu Ende. Deshalb gab es für mich nur eine Möglichkeit, um im Geschäft zu bleiben: zurück in den Querfeldeinsport, wo ich 2000 bereits deutscher Meister war. Erst Anfang dieses Jahres habe ich mein Gleichgewicht als Sportler wiedergefunden und sage: Was gewesen ist, da kannst du eh nichts dran ändern. Schau nach vorn!

Gutes Stichwort: Welche Ziele peilen Sie in dieser Saison an?Malte Urban: Ich war zwei Mal deutscher Meister im Querfeldein, da kann ich nicht sagen, mir reicht Platz zwei. Ich will wieder deutscher Meister werden und eine ordentliche Weltmeisterschaft fahren. Da möchte ich schon gern unter die Top 10.
Jörg Ludewig: Ich habe eingesehen, dass ich nicht - wie erhofft - der Siegfahrer bin. Jetzt bei T-Mobile wünsche ich mir bei Steffen Wesemanns Paris-Roubaix-Sieg, den ich fest erwarte, großen Anteil zu habe. Der größte Traum ist natürlich, im Jahr 1 nach Armstrong im Tour-Team 'auflaufen' zu dürfen, wobei das natürlich sehr schwierig wird. Bei der jüngsten Aufzählung von Rudy Pevenage hat mein Name gefehlt. Aber wenn ich ehrlich bin: Hätte ich die Namen aufsagen müssen, wäre es nicht anders gewesen.

Haben Sie einen guten Rat für den Freund und Kollegen?Malte Urban: Die Voraussetzungen, die Jörg bei T-Mobile hat, sind 1 a. Jetzt muss er dafür sorgen, dass er gesund bleibt und so weiter machen wie bisher. Was er jetzt noch nicht weiß, was ich vor zwei Jahren auch noch nicht wusste: Es gibt ein Leben neben dem Radsport. Radsport ist nicht alles. Ich habe geheiratet und inzwischen auch eine Tochter. Das sind wichtige Elemente, die einen auffangen. Wenn ich meine Frau und meine Tochter nicht hätte, würde ich mich sicherlich nicht so ausgeglichen fühlen wie jetzt.
Jörg Ludewig: Ich wünsche ihm, dass er so bleibt, wie er ist, und natürlich auch, dass er wieder deutscher Meister wird. Aber er hat auch einen richtiger Knaller bei der Weltmeisterschaft drauf. Er kann nämlich etwas, was mir nicht gegeben ist. Wenn er sich etwas vornimmt, zieht er das zu 135 Prozent durch. Malte kann sich innerhalb eines Monats auf einen bestimmten Tag konzentrieren und ist dann noch einmal zehn Prozent stärker. Also Malte: einfach am Ball bleiben.

Artikel vom 05.11.2005