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Wie lange sitzt du beim Friseur, wenn du dir die ganze Stirn so auszupfen läßt?«
»Ach... Nicht so lange. Zwei, drei Stunden vielleicht. Es gibt Frrisuren, die viel länger dauern, weißt du? Bei meiner Sissi zum Beispiel hat es mehr als vier Stunden gedauert.«
»Mehr als vier Stunden! Und was macht sie die ganze Zeit? Ist sie denn brav?«
»Natürlich nicht, natürlich ist sie nicht brav! Sie macht dasselbe wie wir, sie lacht, sie ißt, und sie hört zu, wie wir unsere Geschichten erzählen. Wir erzählen uns viele Geschichten. Viel mehr als ihr.«
»Und du, Carine? Was machst du an Weihnachten?«
»Ich nehm zwei Kilo zu. Und du, Camille, was machst du an Weihnachten?«
»Ich nehm zwei Kilo ab. Nein, war nur ein Scherz.«
»Bist du bei deiner Familie?«
»Ja«, log sie.
»He, wir sind noch nicht fertig«, sagte Super Josy und klopfte auf das Zifferblatt ihrer... etc. etc.
Wie heißen Sie?, las sie auf dem Schreibtisch.
Vielleicht war es reiner Zufall, aber das Foto von seiner Frau und seinen Kindern war verschwunden. Tzz, er war ziemlich leicht zu durchschauen, der Knabe. Sie warf den Zettel weg und fing an zu saugen.
Auch in der Wohnung war die Stimmung weniger drückend. Franck verbrachte die Nacht nicht mehr dort und schoß wie ein Pfeil durch die Wohnung, wenn er nachmittags kam, um sich hinzulegen. Er hatte noch nicht einmal seine neue Anlage ausgepackt.
Philibert verlor kein Wort über das, was sich an jenem Abend hinter seinem Rücken abgespielt hatte, als er im Invalidendom war. Er konnte nicht die geringste Veränderung ertragen. Sein Gleichgewicht hing an einem seidenen Faden, und Camille begann gerade erst die Tragweite seines Handelns in jener Nacht zu begreifen, als er sie zu sich geholt hatte. Wieviel Überwindung es ihn gekostet haben mußte. Sie dachte auch darüber nach, was Franck wegen der Medikamente gesagt hatte.
Er kündigte ihr an, daß er verreisen und bis Mitte Januar abwesend sein würde.
»Kehren Sie in Ihr Schloß zurück?«
»Ja.«
»Freuen Sie sich darauf?«
»Und wie, ich bin froh, meine Schwestern wiederzusehen...«
»Wie heißen sie?«
»Anne, Marie, Catherine, Isabelle, Aliénor und Blanche.«
»Und Ihr Bruder?«
»Louis.«
»Nur Namen von Königinnen und Königen...«
»Oh ja...«
»Und Ihrer?«
»Ach, ich... Ich bin das häßliche Entlein.«
»Sagen Sie das nicht, Philibert. Sie wissen ja, ich habe keine Ahnung von diesen ganzen Aristokratengeschichten, und ich war auch noch nie sehr empfänglich für Adelsprädikate. Um die Wahrheit zu sagen, ich finde sie sogar etwas lächerlich, ein bißchen - antiquiert, aber eins ist sicher: Sie, Sie sind der Prinz. Ein echter Prinz.«
»Oh«, er errötete, »eher ein kleiner Edelmann, ein kleiner Landjunker höchstens.«
»Ein kleiner Edelmann, ja, das ist es. Sagen Sie, glauben Sie, daß wir uns nächstes Jahr duzen könnten?«
»Ah! Da ist sie wieder, meine kleine Frauenrechtlerin! Immerzu Revolutionen. Es würde mir schwerfallen, Sie zu duzen.«
»Mir nicht. Ich würde gern zu Ihnen sagen: Philibert, ich danke dir für alles, was du für mich getan hast, du weißt es zwar nicht, aber in gewisser Weise hast du mir das Leben gerettet.«
Er antwortete nicht. Senkte erneut den Blick.

11. Kapitel
Sie stand früh auf, um ihn zum Bahnhof zu begleiten. Er war so nervös, daß sie ihm die Fahrkarte aus der Hand nehmen und für ihn abstempeln mußte. Sie gingen noch eine heiße Schokolade trinken, aber er rührte seine Tasse nicht an. Je näher die Abfahrt rückte, um so heftiger verzerrte sich sein Gesicht. Seine Ticks waren zurück, und er war erneut der arme Kerl aus dem Supermarkt von gegenüber. Ein großer Junge, bemüht und linkisch, der seine Hände in den Taschen lassen mußte, um sich nicht das Gesicht zu zerkratzen, wenn er die Brille zurechtrückte.

Sie legte ihm die Hand auf den Arm:
»Alles in Ordnung?«
»J... ja, b... bestens, S... Sie haben die Uhr im Blick, nicht... nicht wahr?«
»Sch«, machte sie. »Heee. Es ist alles in Ordnung, alles in Ordnung.«
Er versuchte, ihr zuzustimmen.
»Setzt es Sie so unter Druck, Ihre Familie wiederzusehen?«
»N... nein«, antwortete er und nickte dabei.
»Denken Sie an Ihre kleinen Schwestern.«
Er lächelte sie an.
»Welches ist Ihre Lieblingsschwester?«
»D... die Jüngste.«
»Blanche?«
»Ja.«
»Ist sie hübsch?«
»Sie... Sie ist mehr als das... Sie... sie ist sehr lieb zu mir.«

Sie konnten sich unmöglich umarmen, aber Philibert faßte sie auf dem Bahnsteig an der Schulter:
»Sie... Sie passen gut auf sich auf, nicht wahr?«
»Ja.«
»Fahren Sie zu... zu Ihrer Familie?«
»Nein.«
»Nicht?« Er verzog das Gesicht.
»Ich habe keine kleine Schwester, die den Rest erträglicher machen könnte.«
»Ach.«

Und durchs Fenster nahm er sie ins Gebet:
»Vor... Vor allem, lassen Sie sich von unserem klei... kleinen Bocuse nicht unterkriegen, ja?«
»Nix da«, beruhigte sie ihn.
Er fügte noch etwas hinzu, das aber in der Lautsprecheransage unterging. Vorsichtshalber nickte sie, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Sie beschloß, zu Fuß nach Hause zu gehen, und schlug den falschen Weg ein, ohne es zu merken. Anstatt nach links abzubiegen und den Boulevard Montparnasse hinunterzugehen, um so zur Militärakademie zu gelangen, ging sie geradeaus und fand sich plötzlich in der Rue de Rennes wieder. Es lag an den Läden, der Weihnachtsbeleuchtung, dem regen Treiben.
Sie war wie ein Insekt, vom Licht und dem heißen Blut der Menge angezogen.

Sie wäre gern wie sie, eine von ihnen, in Eile, aufgeregt, geschäftig. Sie würde gern in die Geschäfte gehen und Geld ausgeben, um Menschen zu beschenken, die sie liebte. Schon verlangsamte sie ihren Schritt: Wen liebte sie eigentlich? He, nun mal langsam, sagte sie sich und stellte ihren Jackenkragen auf, fang jetzt bitte nicht wieder so an, du hast Mathilde und Pierre und Philibert und deine Feudelkolleginnen. Hier in diesem Juwelierladen würdest du bestimmt irgendwelchen Flitterkram für Mamadou finden, die sich gern herausputzt. Und zum ersten Mal seit langem tat sie, was alle taten, und auch zur gleichen Zeit wie alle anderen: Sie lief durch die Gegend und rechnete ihr dreizehntes Monatsgehalt durch. Zum ersten Mal seit langem dachte sie nicht an den nächsten Tag. Und das war kein Spruch. Es ging ihr sehr wohl um den nächsten Tag. Um morgen.

Zum ersten Mal seit langem kam es ihr vor, als sei der nächste Tag - zu bewältigen. Ja, genau das: zu bewältigen. Sie hatte einen Ort gefunden, an dem sie gerne lebte. Einen seltsamen Ort, ausgefallen wie die Leute, die darin wohnten. Sie umklammerte ihren Schlüssel in der Tasche und dachte an die letzten Wochen zurück. Sie hatte einen Außerirdischen kennengelernt. Ein großzügiges, weltfremdes Wesen, das tausend Meilen über den Wolken schwebte und daraus keinerlei Selbstgefälligkeit zu beziehen schien. Und dann war da noch der andere Spinner. Okay, mit ihm war es komplizierter. Von seinen Motorrädern und seinen Kochtöpfen abgesehen, konnte man mit ihm nicht viel anfangen, aber wenigstens hatte ihn ihr Skizzenheft ergriffen, wobei... ergriffen war doch etwas zu dick aufgetragen... sagen wir eher angesprochen. Es war komplizierter und könnte doch einfacher sein: Die Gebrauchsanweisung erschien kurz und knapp.

Ja, sie hatte schon eine ganze Strecke geschafft, überlegte sie und trottete hinter den Schaufensterbummlern her.

Letztes Jahr um diese Zeit war sie in einem derart erbärmlichen Zustand gewesen, daß sie den Jungs von der Ambulanz, die sie aufgelesen hatten, nicht einmal ihren Namen sagen konnte, und im Jahr davor hatte sie so viel gearbeitet, da hatte sie gar nicht gemerkt, daß Weihnachten war, und ihr »Wohltäter« hatte sich denn auch gehütet, sie daran zu erinnern, damit sie ja nicht aus dem Takt käme. Na also, dann konnte sie es jetzt ja wohl sagen, oder? Konnte die wenigen Worte aussprechen, die ihr noch vor gar nicht allzu langer Zeit im Hals steckengeblieben wären: Es ging ihr gut, sie fühlte sich gut, und das Leben war schön. Uff, es war raus. Aber jetzt nicht rot werden, du dumme Nuß. Und dich nicht umdrehen. Kein Mensch hat gehört, was für einen Unsinn du da von dir gegeben hast, sei unbesorgt.
Sie hatte Hunger. Sie ging in eine Bäckerei und kaufte ein paar Windbeutel. Vollkommene, leichte, süße Teilchen. Sie leckte sich lange die Finger ab, bevor sie sich in einen neuen Laden traute, um für alle eine Kleinigkeit zu besorgen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.11.2005