12.11.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Er kam mit einem Mädchen. Einem anderen. Weniger grell.

Sie gingen schnell über den Flur und zogen sich in sein Zimmer zurück.
Camille legte erneut Musik auf, um ihre Liebesspiele zu übertönen.
Hmm.
Sie war mies drauf. So nannte man das doch, oder? Mies drauf.
Schließlich nahm sie ihr Buch und verzog sich in die Küche, ans andere Ende der Wohnung.

Wenig später bekam sie ihre Unterhaltung in der Diele mit.
»Du kommst also nicht mit?« fragte sie verwundert.
»Nee, ich bin todmüde, ich hab keine Lust auszugehen.«
»Hör auf, das ist doch zum Kotzen. Deinetwegen hab ich meine ganze Familie versetzt. Du hattest mir versprochen, daß wir essen gehen.«
»Ich sag doch, ich bin todmüde.«
»Wenigstens was trinken.«
»Hast du Durst? Willst du ein Bier?«
»Nicht hier.«
»He... heute ist eh alles zu. Und außerdem arbeite ich morgen!«
»Ich faß es nicht. Dann kann ich ja wohl gehen, oder?«
»Komm schon«, fügte er sanfter hinzu, »du willst mir doch jetzt keine Szene machen. Komm morgen bei mir im Laden vorbei.«
»Wann?«
»Gegen Mitternacht.«
»Gegen Mitternacht. Du spinnst wohl. Und tschüß!«
»Bist du eingeschnappt?«
»Tschüß.«

Er hatte nicht damit gerechnet, sie in der Küche zu finden, eingewickelt in ihre Daunendecke.
»Du bist hier?«
Sie sah auf, ohne zu antworten.
»Warum siehst du mich so an?«
»Pardon?«
»Wie ein Stück Dreck.«
»Überhaupt nicht!«
»Doch, doch, das seh ich doch«, erregte er sich. »Gibt's ein Problem? Stört dich was?«
»Schon gut, ja? Laß mich in Ruhe. Ich hab überhaupt nichts gesagt. Dein Leben ist mir total egal. Mach, was du willst! Ich bin nicht deine Mutter!«
»Gut. Das ist auch besser so.«

»Was gibt's zu futtern?« fragte er und inspizierte das Innere des Kühlschranks, »nichts natürlich. Hier ist nie was drin. Wovon lebt ihr bloß, Philibert und du? Von euren Büchern? Von Fliegen, die ihr euch gefangen habt?«
Camille seufzte und sammelte die Zipfel ihrer Decke zusammen.
»Verziehst du dich? Hast du schon gegessen?«
»Ja.«
»Ah ja, richtig, man könnte meinen, du hast ein bißchen zugelegt.«
»He«, sie drehte sich um und blaffte zurück, »ich misch mich nicht in dein Leben ein und du dich nicht in meins, okay? Außerdem, wolltest du nicht nach den Feiertagen bei einem Kumpel unterschlüpfen? Wenn das so ist, müssen wir nur noch eine Woche durchhalten. Das sollten wir doch schaffen, oder? Hör zu, am einfachsten ist, du sprichst gar nicht mehr mit mir.«
Etwas später klopfte er an ihre Zimmertür.
»Ja?«
Er warf ein Päckchen auf ihr Bett.
»Was ist das?«
Er war schon wieder gegangen.
Es war ein weiches, viereckiges Päckchen. Das Papier war scheußlich, völlig zerknittert, als wäre es schon mehrmals benutzt worden, und es verströmte einen seltsamen Geruch. Einen miefigen Geruch. Nach Kantinenessen.
Camille packte es vorsichtig aus und glaubte zunächst, es sei ein Putzlappen. Dubioses Geschenk des Schönlings von nebenan. Nicht doch, es war ein Schal, sehr lang, sehr weitmaschig und eher schlecht gestrickt: ein Loch, ein Fädchen, zwei Maschen, ein Loch, ein Fädchen etc. Ein neues Muster, vielleicht? Die Farben waren auch... na ja... speziell.

Eine Nachricht lag bei.
Die Schrift einer Grundschullehrerin der Jahrhundertwende, hellblau, zittrig und voller Schleifen, entschuldigte sich:

Mademoiselle,
Franck konnte mir nicht sagen, welche Augenfarbe Sie haben, also habe ich von allem etwas genommen. Ich wünsche Ihnen fröhliche Weihnachten.
Paulette Lestafier

Camille biß sich auf die Lippen. Neben dem Buch der Kesslers, das nicht zählte, weil es etwas in der Art von »Ja, ja, es gibt Menschen, die ein Werk hervorbringen« implizierte, war es ihr einziges Geschenk.
Ui, war es häßlich. Oh, war es schön.
Sie setzte sich in ihrem Bett auf und schlang den Schal wie eine Boa um den Hals, sehr zur Belustigung des Marquis.
Pu pu pi du wuaaah...

Wer war diese Paulette? Seine Mutter?

Mitten in der Nacht hatte sie ihr Buch durch.
Gut. Weihnachten war vorbei.

14. Kapitel
Von neuem dieselbe Leier: Pofen und Malochen. Franck sprach nicht mehr mit ihr, und sie mied ihn, so gut es ging. Nachts war er selten da.

Camille unternahm das eine oder andere. Sie sah sich Botticelli im Luxembourg an, Zao Wou-Ki im Jeu de paume, aber verdrehte die Augen, als sie die Schlange bei Vuillard sah. Und gegenüber gab es Gauguin! Was für ein Dilemma! Vuillard war schon toll, aber Gauguin - ein Gigant! Sie stand da wie Buridans Eselin, die sich nicht entscheiden konnte und hin- und hergerissen war zwischen dem Pont-Aven, den Marquesa-Inseln und der Place Vintimille. Schrecklich war das.

Schließlich malte sie die Leute in der Schlange, das Dach des Grand Palais und die Treppe des Petit Palais. Eine Japanerin kam auf sie zu und flehte sie an, ihr bei Vuitton eine Tasche zu kaufen. Sie hielt ihr vier Hunderteuroscheine hin und führte sich auf, als sei es eine Angelegenheit auf Leben und Tod. Camille breitete die Arme aus:
»Look. Look at me. I am too dirty.« Sie zeigte ihr die ausgelatschten Treter, die zu weite Jeans, den dicken Pulli Stil LKW-Fahrer, den verrückten Schal und den Soldatenmantel, den Philibert ihr geliehen hatte. »They won't let me go in the shop.« Die junge Frau zog eine Schnute, packte ihre Scheine wieder ein und quatschte zehn Meter weiter jemand anderen an.

Entschlossen nahm sie einen Umweg über die Avenue Montaigne. Um nachzusehen.
Die Wachmänner waren wirklich beeindruckend. Sie haßte dieses Viertel, in dem das Geld bot, was man am wenigsten gern verschenkte: schlechten Geschmack, die Macht der Arroganz. Vor den Schaufensterauslagen von Malo mit seinen Kaschmirpullovern ging sie schneller - zu viele Erinnerungen - und kehrte an den Quais entlang zurück.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.11.2005