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Er konzentrierte sich auf die Herstellung seines Joints. Als er fertig war, ging er in sein Zimmer, kam zurück und kauerte sich vor die Anlage.

»Was ist das?«
»Eine Weiberfalle.«
»Richard Cocciante?«
»Nix da.«
»Julio Iglesias, Luis Mariano? Frédéric François?«
»Nein.«
»Herbert Léonard?«
»Psst.«
»Ah! Ich weiß! Roch Voisine!«

I guess IÕll have to say... This album is dedicated to you...

»Neeeeeee.«
»Dooooooch.«
»Marvin?«
»He!« sagte er und schlug mit den Armen aus, »eine Weiberfalle. Hab ich doch gesagt.«
»Den liebe ich.«
»Ich weiß.«
»Sind wir so durchschaubar?«
»Nein, leider seid ihr überhaupt nicht durchschaubar, aber Marvin bringtÕs jedesmal. Ich hab noch nie ein Mädchen getroffen, das bei ihm nicht schwach wird.«
»Noch nie?«
»Nie, nie, nie. Doch, natürlich! Aber ich erinnere mich nicht mehr. Die zählten nicht. Oder wir sind gar nicht erst soweit gekommen.«
»Hast du viele Mädchen gekannt?«
»Was meinst du mit gekannt?«
»He! Warum nimmst du sie wieder raus?«
»Ich hab mich geirrt, die wollt ich gar nicht auflegen.«
»Doch, laß sie laufen! Das ist meine Lieblings-CD! Du wolltest Sexual Healing, stimmtÕs? Pfff, was seid ihr durchschaubar, alle miteinander. Kennst du wenigstens die Geschichte von diesem Album?«
»Welchem?«
»Here my dear.«
»Nein, die hier hör ich nicht so oft.«
»Soll ich sie dir erzählen?«
»Moment, ich machÕs mir erst bequem. Gib mir ein Kissen.«
Er zündete seinen Joint an und legte sich hin wie ein alter Römer, den Kopf in die Hand gestützt.
»Schieß los.«
»Okay. Aber ich bin nicht Philibert, ich geb dir einen Abriß in groben Zügen. Also Here my dear, das heißt ungefähr so viel wie: Hier nimm, meine Liebe.«
»Meine Liebe im Sinne von love?«
»Nein, meine Liebe im Sinne von mein Schatz«, korrigierte sie ihn. »Marvins erste große Liebe war ein Mädchen namens Anna Gordy. Es heißt, die erste Liebe ist immer die letzte, ich weiß nicht, ob das stimmt, aber bei ihm ist klar, daß er nicht der wäre, der er ist, wenn er sie nicht getroffen hätte. Sie war die Schwester eines hohen Tiers in der Motown-Szene, des Gründers, glaube ich: Berry Gordy. Sie war in der Szene supergut eingeführt, und er scharrte ungeduldig mit den Füßen, quoll über vor Talent, er war gerade mal zwanzig und sie fast doppelt so alt, als sie sich kennenlernten. Also, Liebe auf den ersten Blick, Leidenschaft, Romanze, Geldgeschichten und der ganze Kladderadatsch, es war passiert. Sie war es, die ihm zum Erfolg verholfen, ihn auf den Weg gebracht, ihn unterstützt, ihn geführt, ihn ermuntert hat etc. Eine Art Pygmalion, wenn du so willst.«
»Eine Art was?«
»Eine Art Guru, Coach, Cheerleader. Sie hatten große Probleme, ein Kind zu kriegen, und adoptierten schließlich eins, dann - wir spulen vor und sind im Jahr 1977, ihre Ehe ist angeschlagen. Er war nach oben katapultiert, ein Star, ein Gott fast. Und ihre Scheidung war wie alle Scheidungen eine schmutzige Angelegenheit. Du kannst dir vorstellen, die Scheidungssumme war horrend. Kurzum, es war zutiefst verletzend, und um alle zu beschwichtigen und ihre Konten zu saldieren, schlug Marvins Rechtsanwalt vor, daß alle Tantiemen an seinem nächsten Album in die Geldkatze der Ex fließen sollten. Der Richter war einverstanden, und unser Idol rieb sich die Hände: Er stellte sich vor, daß er ihr ein Album hinrotzen würde, schnell gemacht, gut gemacht, um sich von dieser Bürde zu befreien. Nur daß er es nicht konnte. Man konnte eine Liebesgeschichte nicht so einfach verscherbeln. Das heißt... Manche können es ziemlich gut, er nicht. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr fand er, daß die Gelegenheit zu günstig wäre... oder zu erbärmlich. Also zog er sich zurück und komponierte ein kleines Wunderwerk, das ihre ganze Geschichte nachzeichnet: ihre erste Begegnung, ihre Leidenschaft, ihre ersten Bruchstellen, ihr Kind, ihre Eifersucht, ihren Haß, ihre Wut... Hörst du? Anger, wenn alles kaputtgeht? Dann die Beruhigung und der Beginn einer neuen Liebe. Es ist ein wunderschönes Geschenk, findest du nicht? Er hat alles gegeben, er hat alles aus sich herausgeholt, um ein Album zu machen, das ihm nicht einmal einen Cent einbringen würde.«
»Hat ihr das gefallen?«
»Wem, der Ex?«
»Ja.«
»Nein, sie hat es gehaßt. Sie war stinkwütend und hat ihm lange Zeit vorgehalten, ihr Privatleben in der Öffentlichkeit breitgetreten zu haben. Hier, das ist es: This is AnnaÕs Song... Hörst du, wie schön? Du mußt zugeben, das klingt nicht nach Rache. Das klingt immer noch nach Liebe.«
»Jaaa.«
»Stimmt dich das nachdenklich?«
»Glaubst du daran?«
»Woran?«
»Daß die erste Liebe immer die letzte ist?«
»Ich weiß nicht. Ich hoffe nicht.«
Sie hörten sich die CD zu Ende an, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

»Auf jetzt. Fast vier, Scheiße. Ich werd ja morgen in Form sein.«
Er stand auf.
»Gehst du zu deiner Familie?«
»Zu dem, was davon übrig ist, ja.«
»Ist denn nicht mehr viel davon übrig?«
»So viel«, sagte er und hielt Daumen und Zeigefinger vor sein Auge.
»Und du?«
»So viel«, antwortete sie und hielt die Hand über den Kopf.
»Na dann, willkommen im Club. Okay... Gute Nacht.«
»Schläfst du hier?«
»Stört es dich?«
»Nee, nee, ich wolltÕs nur wissen.«

Er drehte sich um:
»Schläfst du mit mir?«
»Pardon?«
»Nee, nee, ich wolltÕs nur wissen.«
Er grinste sich eins.

13. Kapitel
Als sie gegen elf aufstand, war er schon weg. Sie kochte sich eine große Kanne Tee und ging wieder ins Bett.
Dürfte ich nur eine einzige Begebenheit aus meinem Leben berichten, wählte ich diese: Ich war sieben Jahre alt, als der Postbote meinen Kopf überfuhr...

Am späten Nachmittag riß sie sich von ihrer Geschichte los, um Tabak zu kaufen. An einem Feiertag würde das nicht leicht sein, aber egal, es war ohnehin vor allem ein Vorwand, damit sich die Geschichte setzen konnte und sie später die Freude hätte, zu ihrem neugewonnenen Freund zurückzukehren.
Die großen Avenuen im 7. Arrondissement waren menschenleer. Sie lief lange auf der Suche nach einem offenen Café und nutzte die Gelegenheit, um bei ihrem Onkel anzurufen. Das Gejammer ihrer Mutter (ich hab zu viel gegessen etc.) ging im fernen Wohlwollen familiärer Herzensergüsse unter.
Viele Weihnachtsbäume waren schon auf den Bürgersteigen gelandet.
Sie blieb einen Moment stehen, um den Rollschuhakrobaten am Trocadero zuzuschauen, und bedauerte, daß sie ihr Heft nicht mitgenommen hatte. Mehr noch als die oft ausgefeilten und sinnlosen Kapriolen mochte sie ihre einfallsreichen Bastelarbeiten: wacklige Sprungbretter, leuchtende Pylonen, in einer Reihe aufgestellte Bierdosen, umgedrehte Paletten und tausend andere Arten, sich auf die Schnauze zu legen und dabei die Hose zu verlieren.
Sie dachte an Philibert. Was er wohl gerade machte?


Bald verschwand die Sonne, und die Kälte lastete mit einem Mal auf ihren Schultern. Sie bestellte in einem der vornehmen Lokale am Platz ein Club-Sandwich und malte auf ihre Papierserviette die blasierten Gesichter der Schnösel dieses Viertels, die die Schecks ihrer Mamis unterschrieben und dabei die Taille eines bezaubernden Mädchens umfingen, das aufgebrezelt war wie eine Barbiepuppe.

Sie las noch fünf Millimeter von Brady Udall und ging leicht fröstelnd zurück über die Seine.
Sie verging vor Einsamkeit.

Ich vergehe vor Einsamkeit, wiederholte sie leise, ich vergehe vor Einsamkeit.

Sollte sie ins Kino gehen? Pff... Und mit wem sollte sie hinterher über den Film sprechen? Wofür sind Emotionen gut, wenn man allein ist? Sie stemmte sich mit letzter Kraft gegen das Tor und war ziemlich enttäuscht, die Wohnung leer vorzufinden.

Sie betätigte sich ein wenig im Haushalt, um auf andere Gedanken zu kommen, und nahm ihr Buch wieder zur Hand. Es gibt keinen Kummer, über den ein Buch nicht hinwegtrösten könnte, sagte der große Dichter. Wir werden sehen.
Als sie den Schlüssel in der Tür hörte, tat sie ganz unbeteiligt, kringelte sich auf dem Kanapee zusammen und schlug die Beine unter.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.11.2005