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Elegant gekleidete Menschen liefen in alle Richtungen, den Arm voller Päckchen. Den Frauen schmerzten in ihren Lackschühchen schon die Füße, die Kinder liefen zwischen den Betonpollern im Zickzack, und die Herren warfen vor den Sprechanlagen einen Blick in ihre Adreßbücher.

Amüsiert verfolgte Camille das Treiben. Sie hatte es nicht eilig und reihte sich vor einem edlen Feinkosthändler in die Schlange, um sich ein gutes Abendessen zu gönnen. Oder vielmehr eine gute Flasche. Was den Rest anging, war sie ziemlich unentschlossen. Schließlich zeigte sie dem Verkäufer ein Stück Ziegenkäse und zwei Nußbrötchen. He, es sollte ja vor allem eine Grundlage für ihr Fläschchen sein.

Sie öffnete die Flasche und stellte sie neben den Heizkörper, um sie zu temperieren. Zuerst war sie selbst dran. Sie ließ sich Badewasser einlaufen und blieb über eine Stunde in der Wanne, bis zur Nase im heißen Wasser. Sie zog einen Schlafanzug an, dicke Strümpfe und entschied sich für ihren Lieblingspullover. Einen sündhaft teuren Kaschmirpullover, Überbleibsel aus vergangenen Tagen. Sie packte Francks Stereoanlage aus, baute sie im Wohnzimmer auf, richtete sich ein Tablett, machte alle Lichter aus und rollte sich unter der Daunendecke auf dem alten Kanapee zusammen.

Sie überflog das Heftchen mit den Titeln, das Nisi Dominus befand sich auf der zweiten CD. Tja, die Vesper vor Christi Himmelfahrt war ja nicht wirklich die passende Messe, außerdem würde sie die Psalmen in der falschen Reihenfolge hören, der reinste Blödsinn.

Aber na und?
Na und?
Sie drückte auf den Knopf der Fernbedienung und schloß die Augen: Sie war im siebten Himmel.
Allein in dieser riesigen Wohnung, ein Glas Nektar in der Hand, hörte sie die Engel singen.
Sogar die Gehänge des Lüsters bebten vor Wonne.

Cum dederit dilactis suis somnum.
Ecce, haereditas Domin filii: merces fructus ventris.

Das hier war das Stück Nummer 5, das Stück Nummer 5 hatte sie jetzt bestimmt schon vierzehnmal gehört.
Und noch beim vierzehnten Mal zersprang ihr Brustkorb in tausend Stücke.

Einmal, als sie allein im Auto unterwegs waren und sie ihn ge-fragt hatte, warum er immer wieder dasselbe Lied höre, hatte ihr Vater geantwortet: »Die menschliche Stimme ist das schönste Instrument überhaupt, das ergreifendste. Selbst der größte Virtuose der Welt würde niemals auch nur ein Viertel der Hälfte an Emotionen auslösen wie eine schöne Stimme. Das ist unser Anteil am Göttlichen. Das erkennt man, wenn man älter wird, glaube ich. Jedenfalls hat es bei mir lange gedauert, bis ich es begriffen habe, aber sag... Willst du was anderes hören? Sur le pont dÕAvignon?«

Sie hatte schon die halbe Flasche ausgetrunken und gerade die zweite CD aufgelegt, als das Licht anging.
Es war entsetzlich, sie hielt sich die Hände vor die Augen, und die Musik kam ihr völlig deplaziert vor, die Stimmen unpassend, geradezu näselnd. Binnen zwei Minuten fand sich alle Welt im Fegefeuer wieder.

»Ach, du bist hier?«
»...«
»Bist du nicht bei dir zu Hause?«
»Oben?«
»Nein, bei deinen Eltern.«
»Nein, wie du siehst.«
»Hast du heut gearbeitet?«
»Ja.«
»Na dann, Entschuldigung, eh, Entschuldigung... Ich dachte, es wär keiner da.«
»Nix passiert.«
»Was ist das, was du da hörst? Castafiore?«
»Nein, eine Messe.«
»Ehrlich? Bist du gläubig?«
Sie mußte ihn unbedingt ihrem Wachmann vorstellen. Sie gäben ein gutes Paar ab, die beiden. Noch besser als die beiden Alten in der Muppet Show.
»Nein, nicht besonders. Würdest du bitte das Licht ausmachen?«

Er kam der Aufforderung nach und ging aus dem Zimmer, aber es war nicht mehr dasselbe. Der Zauber war dahin. Sie war ernüchtert, und auch das Kanapee hatte nicht mehr die Form einer Wolke. Sie versuchte sich zwar zu konzentrieren, nahm das Titelheft in die Hand und sah nach, wo sie war:
Deus in adiutorium meum intende.
Gott steh mir bei!
Ja, das warÕs.

Offensichtlich suchte der Tölpel etwas in der Küche und rächte sich brüllend an allen Schranktüren:
»Sag mal, du hast nicht zufällig die zwei gelben Tupperdinger gesehen?«
Ach, du Elend.
»Die großen?«
»Ja.«
»Nein. Ich hab sie nicht angerührt.«
»In dieser Bruchbude findet man nichts wieder. Was macht ihr nur mit dem ganzen Geschirr? Eßt ihr es mit oder was?«
Camille drückte auf Pause und seufzte:
»Darf ich dir eine indiskrete Frage stellen? Warum suchst du um zwei Uhr morgens an Heiligabend ein gelbes Tupperteil?«
»Darum. Ich brauch es.«
Okay, alles hinüber. Sie stand auf und machte die Musik aus.
»Ist das meine Anlage?«
»Ja. Ich habe mir erlaubt...«
»Mannomann, die ist ja superklasse. Da hast du dich aber ganz schön verausgabt!«
»Eh ja, da habe ich ganz schön was verausgabt.«
Er sperrte seine Hechtaugen auf:
»Warum plapperst du mir alles nach?«
»Nichts für ungut. Fröhliche Weihnachten, Franck. Komm, wir suchen deine Schüsseln gemeinsam. Da, siehst du, auf der Mikrowelle.«

Sie setzte sich auf das Kanapee, während er den Kühlschrank verrückte. Anschließend ging er ohne ein Wort durchs Zimmer, um zu duschen. Camille versteckte sich hinter ihrem Glas: Sie hatte vermutlich den ganzen Heißwasserboiler geleert.
»Wer hat denn das ganze heiße Wasser aufgebraucht?«

Eine halbe Stunde später kam er zurück, in Jeans, mit nacktem Oberkörper.
Lässig zögerte er den Moment hinaus, bis er den Pulli anzog. Camille lächelte: Das war nicht mehr die trapsende Nachtigall, das war die Methode mit dem Zaunpfahl.
»Darf ich?« fragte er und zeigte auf den Teppich.
»Fühl dich wie zu Hause.«
»Ich glaubÕs nicht, du ißt was?«
»Käse und Trauben.«
»Und davor?«
»Nichts.«
Er schüttelte den Kopf.
»Das hier ist sehr guter Käse, weißt du? Und das sind sehr gute Trauben. Und auch sehr guter Wein. Möchtest du übrigens einen Schluck?«
»Nein, nein. Danke.«
Uff, dachte sie, das hätte geschmerzt, wenn sie ihren Mouton-Rothschild mit ihm hätte teilen müssen.

»Alles in Ordnung?«
»Pardon?«
»Ich frage dich, ob alles in Ordnung ist«, wiederholte er.
»Eh... ja. Und bei dir?«
»Müde.«
»Arbeitest du morgen?«
»Nee.«
»Das ist gut, dann kannst du dich ausruhen.«
»Nee.«
Tolle Unterhaltung.

Er rückte näher an den Wohnzimmertisch, nahm eine CD-Hülle in die Hand und packte seinen Stoff aus:
»Soll ich dir eine drehen?«
»Nein, danke.«
»Stimmt ja, du bist ja eine ganz Solide.«
»Ich habe mich für etwas anderes entschieden«, sagte sie und griff nach ihrem Glas.
»Das ist ein Fehler.«
»Warum, ist Alkohol schlimmer als Drogen?«
»Ja. Und du kannst mir glauben, ich habe in meinem Leben schon einige Saufbrüder gesehen. Und außerdem ist das hier keine Droge. Das ist ein Leckerbissen, Quality Street für Große.«
»Wenn du das sagst...«
»Willst du nicht probieren?«
»Nein, ich kenn mich doch. Das würde mir bestimmt gefallen!«
»Na und?«
»Nichts und. Ich habe nur ein Problem mit der Voltzahl. Wie soll ich sagen? Ich habe oft das Gefühl, mir fehlt ein Knopf. Du weißt schon, so ein Teil, mit dem man die Lautstärke regelt. Ich gehe immer zu weit, in die eine wie in die andere Richtung. Ich finde nie das richtige Gleichgewicht, und es nimmt immer ein böses Ende, das ist mir so mit auf den Weg gegeben.«
Sie war von sich selbst überrascht. Warum vertraute sie sich ihm an? Ein leichter Rausch vielleicht?
»Wenn ich trinke, trink ich zuviel, wenn ich rauche, mach ich mich kaputt, wenn ich liebe, verlier ich den Verstand, und wenn ich arbeite, verausgabe ich mich völlig. Ich kann nichts normal machen, ruhig, ich...«
»Und wenn du haßt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ich dachte, du haßt mich?«
»Noch nicht«, lächelte sie, »noch nicht... Wirst schon sehen. Wenn es soweit ist, wirst du den Unterschied sehen.«
»Okay. Und jetzt? Ist deine Messe zu Ende?«
»Ja.«
»Was hören wir jetzt?«
»Eh... Ehrlich gesagt weiß ich nicht so recht, ob wir den gleichen Geschmack haben.«
»Vielleicht haben wir auch mal irgendwas gemeinsam. Warte. Laß mich nachdenken. Ich bin sicher, daß ich einen Sänger finde, der dir auch gefällt.«
»Nur zu.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.11.2005