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Als sie zu den Kassen ging, begegnete sie dem Blick von Vuillard. Auch hier war es kein Spruch: Er sah sie an. Mit zärtlichem Blick.
Selbstporträt mit Stock und Kreissäge. Sie kannte das Bild, hatte aber noch nie eine derart große Reproduktion gesehen. Es war das Cover eines riesigen Katalogs. Dann lief zur Zeit wohl eine Ausstellung? Nur wo?
»Im Grand Palais«, bestätigte ihr einer der Verkäufer.
»Ja?«

Eine seltsame Fügung. Sie hatte in den letzten Wochen ununterbrochen an ihn gedacht. Ihr Zimmer mit den überladenen Wandbehängen, der Stola auf dem Kanapee, den bestickten Kissen, den Teppichen, die sich ineinander verfingen, und dem gedämpften Licht der Lampen. Mehr als einmal hatte sie das Gefühl gehabt, sich mitten in einem Gemälde von Vuillard zu befinden. Dasselbe Gefühl von warmem Bauch, von Kokon, zeitlos, beruhigend, erstickend, aber auch erdrückend.
Sie blätterte noch ein wenig in dem Ansichtsexemplar und wurde von grenzenloser Bewunderitis gepackt. Wie schön es war. Wie schön. Diese Frau von hinten, die eine Tür aufmachte. Ihre rosa Bluse, ihr langes schwarzes Etuikleid und der perfekte Hüftschwung. Wie hatte er diesen Moment bloß eingefangen? Den leichten Hüftschwung einer eleganten Frau von hinten?
Nur mit ein bißchen schwarzer Farbe?
Wie war dieses Wunder möglich?

Je reiner die Mittel, um so reiner das Werk. In der Malerei gibt es zwei Gestaltungsmittel, Form und Farbe, je reiner die Farben, um so reiner die Schönheit des Werks.

In ihrem Tagebuch wurden diese Leitsätze gebetsmühlenartig wiederholt.

Seine schlafende Schwester, der Nacken von Misia Sert, die Ammen in den Parks, die gemusterten Kleider der Mädchen, das Porträt von Mallarmé mit bleigrauem Teint, die Studien für das Porträt von Yvonne Printemps, dieses niedliche Raubtiergesicht, die vollgekritzelten Seiten seines Kalenders, das Lächeln von Lucie Belin, seiner Geliebten. Ein Lächeln auf die Leinwand zu bannen ist völlig unmöglich, und doch war es ihm gelungen. Seit fast einem Jahrhundert lächelt uns diese junge Frau, die wir in ihrer Lektüre unterbrachen, zärtlich an und scheint uns mit einer kleinen Bewegung ihres müden Nackens sagen zu wollen: »Ach, du bistĂ•s?«

Und diese kleine Leinwand hier, die kannte sie nicht. Es war im übrigen keine Leinwand, sondern ein Karton. Die Gans. Genial. Vier Männer, von denen zwei in Abendkleidung steckten und Zylinder trugen, versuchten eine aufmüpfige Gans einzufangen. Diese Vielfalt an Farben, die Schroffheit der Kontraste, die Inkohärenz der Perspektiven. Oh! Wieviel Spaß mußte er an jenem Tag gehabt haben!

Eine gute Stunde und einen steifen Hals später nahm sie schließlich die Nase aus dem Buch und sah auf den Preis: autsch, neunundfünfzig Euro. Nein. Das kam nicht in Frage. Nächsten Monat vielleicht. Für sich selbst hatte sie bereits eine andere Idee: ein Musikstück, das sie unlängst beim Fegen der Küche im Radio gehört hatte.

Altüberlieferte Gesten, altsteinzeitlicher Besen und abgenutzte Fliesen, sie fluchte gerade zwischen zwei Cabochonsteinen, als eine Sopranstimme dafür sorgte, daß sich ihr nach und nach die Haare auf dem Unterarm aufstellten. Sie hatte sich der Sprecherin genähert und die Luft angehalten: Nisi Dominus, Vivaldi, Vespri Solenni per la Festa dellĂ•Assunzione di Maria Vergine.
Gut, genug geträumt, genug gesabbert, genug ausgegeben, jetzt war es an der Zeit, zur Arbeit zu gehen.

Heute abend dauerte es länger wegen der Weihnachtsfeier, die der Betriebsrat eines Unternehmens organisiert hatte, für das sie zuständig waren. Josy schüttelte mißbilligend den Kopf, als sie das Chaos kommentierte, und Mamadou staubte zig Mandarinen und Kekse für ihre Kinder ab. Sie verpaßten allesamt die letzte Metro, aber das machte nichts: Proclean zahlte ihnen das Taxi! Luxus pur! Jede suchte sich glucksend ihren Fahrer aus, und sie wünschten sich im voraus fröhliche Weihnachten, denn nur Camille und Samia hatten sich für den 24. eingetragen.

12. Kapitel
Am nächsten Tag, einem Sonntag, aß Camille bei den Kesslers. Es gab kein Entkommen. Sie waren nur zu dritt und unterhielten sich recht angeregt. Keine heiklen Fragen, keine ausweichenden Antworten, kein betretenes Schweigen. Ein richtiger Weihnachtsfrieden. Das heißt, doch! Als sich Mathilde nach den Lebensumständen in ihrem Dienstmädchenzimmer erkundigte, hatte Camille ein wenig lügen müssen. Sie wollte ihren Umzug nicht erwähnen. Noch nicht. Vorsicht. Der kleine Kläffer war noch nicht verschwunden, und ein Psychodrama konnte sehr wohl ein anderes verdecken.

Als sie ihr Geschenk in Händen hielt, sagte sie überzeugt:
»Ich weiß, was es ist.«
»Nein.«
»Doch!«
»Na, sag schon. Was ist es?«
Das Päckchen war in Packpapier eingeschlagen. Camille machte die Verschnürung auf, legte es direkt vor sich hin und holte ihren Druckbleistift heraus.
Pierre labte sich daran. Wenn sie nur wieder anfangen würde, diese Närrin.

Als sie fertig war, zeigte sie ihm das Bild: die Kreissäge, der rote Bart, die Augen groß wie Hosenknöpfe, die dunkle Jacke, die Türeinfassung und der gedrechselte Knauf, es sah aus, als hätte sie das Cover abgepaust.
Pierre brauchte einen Moment, bevor er verstand:
»Wie hast du das gemacht?«
»Ich habe es mir gestern über eine Stunde lang angeschaut.«
»Hast du es schon?«
»Nein.«
»Uff.«
Dann:
»Hast du wieder angefangen?«
»Ein bißchen.«
»So was wie das hier?« fragte er und zeigte auf das Porträt von Edouard Vuillard, wieder das dressierte Hündchen?
»Nein, nein. Ich... Ich fülle meine Skizzenhefte, nichts Dolles also, Kleinkram im Grunde.«
»Macht es dir wenigstens Spaß?«
»Ja.«
Er frohlockte:
»Aaah, wunderbar. Zeigst du mir die Sachen?«
»Nein.«
»Und wie geht es deiner Mutter?« fiel die ach so diplomatische Mathilde ein. »Immer noch am Rande des Abgrunds?«
»Eher auf dem Grund.«
»Dann ist ja alles in Ordnung, oder?«
»Bestens«, lächelte Camille.

Den restlichen Abend schwangen sie große Reden über die Malerei. Pierre kommentierte Vuillards Arbeit, suchte nach Ähnlichkeiten, zog Parallelen und verlor sich in unendlichen Exkursen. Er stand mehrmals auf, um in seiner Bibliothek den Beweis für seine scharfen Analysen zu holen, und nach einiger Zeit war Camille ganz an den Rand des Kanapees gerückt, um Maurice (Denis), Pierre (Bonnard), Félix (Valloton) und Henri (de Toulouse-Lautrec) ihren Platz zu überlassen.
Als Händler war er anstrengend, doch als aufgeschlossener Kunstliebhaber eine wahre Freude. Natürlich erzählte er auch dummes Zeug - wer tat das nicht in der Kunst? -, aber er drückte es wunderschön aus. Mathilde gähnte, und Camille leerte die Flasche Champagner. Piano ma sano.

Als sein Gesicht schon fast hinter den Rauchschwaden der Zigarre verschwunden war, bot er ihr an, sie nach Hause zu fahren. Sie lehnte ab. Sie hatte zuviel gegessen und brauchte einen langen Spaziergang.

Die Wohnung war leer und kam ihr viel zu groß vor. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und verbrachte die zweite Hälfte der Nacht mit der Nase in ihrem Geschenk.

Sie schlief am Vormittag ein paar Stunden und gesellte sich früher als sonst zu ihrer Kollegin, es war Heiligabend, und die Büros leerten sich um fünf Uhr. Sie arbeiteten schnell und schweigend.
Samia ging als erste, und Camille blieb noch einen Moment, um mit dem Wachmann zu scherzen:
»Und der Bart und die Mütze, ist das Pflicht?«
»Hm, nein, das war eine Initiative von mir, um Eindruck zu schinden.«
»Und hat es funktioniert?«
»Pff, von wegen. Den Leuten ist das schnurzegal. Nur meinen Hund hat das beeindruckt. Er hat mich nicht erkannt und mich angeknurrt, dieser Trottel. Ich hatte ja schon blöde Hunde, da kann ich ein Lied von singen, aber der hier schießt den Vogel ab.«
»Wie heißt er?«
»Matrix.«
»Eine Hündin?«
»Nein, warum?«
»Eh... nur so. Okay, tschüß dann. Fröhliche Weihnachten, Matrix«, sagte sie zu dem dicken Dobermann, der neben ihren Füßen lag.
»Wart nicht darauf, daß er dir antwortet, der versteht gar nix, sag ich dir.«
»Nee, nee«, antwortete Camille lachend, »darauf warte ich nicht.«
Dieser Typ war Laurel und Hardy in einer Person.

Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.11.2005