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Parfum für Mathilde, Schmuck für die Mädels, ein Paar Handschuhe für Philibert, Zigarren für Pierre. Konnte man überhaupt konventionellere Geschenke kaufen? Nein. Es waren die idiotischsten Weihnachtsgeschenke der Welt, und sie waren perfekt.

Sie beschloß ihren Einkaufsbummel nahe der Place Saint-Sulpice und ging in eine Buchhandlung. Auch das war seit langem das erste Mal. In derlei Läden wagte sie sich nicht mehr hinein. Schwer zu erklären, aber es tat zu weh, es... es war... Nein, so konnte sie das nicht sagen. Diese Niedergeschlagenheit, diese Feigheit, dieses Risiko, das sie nicht mehr auf sich nehmen wollte. Eine Buchhandlung zu betreten, ins Kino zu gehen, Ausstellungen zu besuchen oder einen Blick in die Schaufensterauslagen der Kunstgalerien zu werfen bedeutete, den Finger auf ihre Mittelmäßigkeit zu legen, ihren Kleinmut, und sich daran zu erinnern, daß sie eines Tages voller Verzweiflung das Handtuch geworfen und seitdem nicht wieder aufgehoben hatte.
Welchen dieser Orte, die ihre Legitimation aus der Sensibilität einzelner bezogen, sie auch betreten würde, er würde sie daran erinnern, daß ihr Leben müßig war.

Da waren ihr die Abteilungen eines Supermarkts lieber.

Wer konnte das verstehen? Kein Mensch.
Es war ein inniger Kampf. Der unsichtbarste von allen. Auch der schmerzlichste. Und wie viele Abende mit Putzen, Einsamkeit und lästigen Klos mußte sie noch über sich ergehen lassen, um damit fertig zu sein?

Sie mied zunächst die Abteilung der »Schönen Künste«, die sie in- und auswendig kannte, weil sie zu Zeiten, da sie versucht hatte, an der gleichnamigen Hochschule zu studieren, häufig dagewesen war, und später dann aus weniger ruhmreichen Motivationen heraus. Sie hatte im übrigen nicht die Absicht, dorthin zurückzukehren. Es war zu früh. Oder auch zu spät. Wie die Geschichte mit dem Grund, den man berühren mußte, um sich wieder abzustoßen. Vielleicht war sie an einem Punkt in ihrem Leben angekommen, wo sie nicht mehr auf die Hilfe der großen Meister zählen sollte?

Seit sie einen Stift halten konnte, hatte man ihr immer wieder gesagt, wie begabt sie sei. Sehr begabt. Zu begabt. Zu vielversprechend, viel zu vorwitzig oder zu verwöhnt. Häufig aufrichtig, andere Male zweischneidiger, hatten diese Komplimente sie nicht weitergebracht, und heute, da sie nur mehr wie besessen Skizzenhefte füllen konnte, an denen sie wie eine Klette hing, würde sie wohl gut und gerne ihre zwei Fässer Fingerfertigkeit gegen ein wenig Arglosigkeit eintauschen. Oder gegen eine Zaubertafel. Schwuppdiwupp! Nichts mehr da. Null Technik, null Referenzen, null Wissen, alles weg. Noch mal von vorn.
Einen Kugelschreiber, siehst du... den hält man zwischen Daumen und Zeigefinger. Das heißt, gar nicht mal, den hält man, wie man will. Dann ist es nicht schwer, du denkst nicht mehr darüber nach. Deine Hände existieren nicht mehr. Das Ganze spielt sich woanders ab. Nein, so nicht, das ist viel zu schön. Wir wollen nicht, daß du etwas Schönes machst, weißt du? Wir pfeifen auf das Schöne. Dafür gibt es Kinderzeichnungen und das Glanzpapier der Illustrierten. Komm, zieh dir ein Paar Fausthandschuhe über, du kleines Genie, du kleine leere Muschel, aber ja doch, zieh sie an, sag ich, und du wirst sehen, vielleicht schaffst du es dann endlich, einen fast perfekten mißglückten Kreis zu zeichnen.

Sie schlenderte also zwischen den Büchern entlang. Sie fühlte sich verloren. Es gab so viele, und sie war seit langem nicht mehr auf dem laufenden, was die Neuerscheinungen betraf, so daß sie von den ganzen roten Banderolen einen Drehwurm bekam. Sie sah sich die Einbände an, las den Klappentext, sah nach, wie alt die Autoren waren, und verzog das Gesicht, wenn sie jünger waren als sie. Das war als Auswahlkriterium nicht wirklich gescheit. Sie ging weiter in die Taschenbuchabteilung. Das schlechtere Papier und die kleingedruckten Buchstaben wirkten weniger einschüchternd auf sie. Das Cover von diesem hier, ein Junge mit Sonnenbrille, war ziemlich häßlich, aber der Anfang gefiel ihr:
Dürfte ich nur eine einzige Begebenheit aus meinem Leben berichten, wählte ich diese: Ich war sieben Jahre alt, als der Postbote meinen Kopf überfuhr. Kein Erlebnis hat mich so geprägt wie dieses. Mein chaotisches, zielloses Leben, mein versehrtes Gehirn und mein Glaube an Gott, meine Zusammenstöße mit Freud und Leid - alles entspringt auf die eine oder andere Art jenem Augenblick an einem Sommermorgen, als der linke Hinterreifen eines US-Mail-Jeeps meinen kleinen Kopf in den heißen Kies des Apachen-Reservates von San Carlos malmte.

Ja, das klang nicht schlecht. Außerdem war das Buch schön quadratisch, ziemlich dick, ziemlich dicht beschrieben. Es enthielt Dialoge, Auszüge aus Briefen und schöne Untertitel. Sie blätterte weiter und las gegen Ende des ersten Drittels:

»Gloria«, sagte Barry mit seiner aufgesetzten Arztstimme. »Hier ist Edgar, dein Sohn. Er hat lange auf ein Wiedersehen gewartet.«
Meine Mutter warf Blicke auf alles mögliche in der Küche, nur nicht auf mich. »Gibt es noch was?« fragte sie Barry mit hoher, zitternder Stimme, und meine Eingeweide krampften sich zusammen.
Barry seufzte, öffnete den Kühlschrank und holte eine Dose Bier heraus. »Das ist die letzte. Später besorgen wir Nachschub.« Er stellte sie vor meine Mutter auf den Tisch und gab ihrem Stuhl einen sanften Schubs. »Gloria, das ist dein Junge. Hier ist er.«

Dem Stuhl einen sanften Schubs geben. Vielleicht war das die richtige Methode?

Als sie gegen Ende auf diesen Abschnitt stieß, klappte sie das Buch zuversichtlich wieder zu:

Das ist nicht weiter schwierig, wirklich. Ich gehe herum, den Notizblock in der Hand, und die Leute legen ihr Innerstes bloß. Sobald ich vor ihren Türen auftauche, erzählen sie mir ihre Lebensgeschichte, berichten von ihren kleinen Triumphen, ihrer versteckten Wut und ihren geheimen Versäumnissen. Normalerweise stecke ich den Notizblock weg, er ist ohnehin nur Show, und höre geduldig zu, bis sie alles gesagt haben. Der Rest ist einfach. Ich gehe nach Hause, setze mich an meine Hermes Jubilee und tue, was ich seit zwanzig Jahren täglich getan habe, tippe alles, und sei es noch so unbedeutend.

Ein zerquetschter Kopf in der Kindheit, eine Mutter, die geistig weggetreten ist, ein kleines Notizheft tief in der Hosentasche.
Was für eine Phantasie.

Ein Stück weiter sah sie das neue Buch von Sempé. Sie nahm ihren Schal ab und steckte ihn zusammen mit dem Mantel zwischen die Beine, um sich ihrer Freude noch bequemer hingeben zu können. Langsam blätterte sie die Seiten um und bekam wie immer rosige Wangen. Sie mochte nichts lieber als diese kleine Welt von großen Träumern, die sichere Strichführung, die Gesichter der Figuren, die Markisen der Vorstadtbungalows, die Regenschirme der alten Frauen und die unendliche Poesie der Situationen. Wie machte er das? Woher nahm er das alles? Sie erkannte die Kerzen, die Weihrauchfässer und den großen barocken Altar ihrer bevorzugten Betschwester. Dieses Mal saß sie ganz hinten in der Kirche, hatte ein Handy in der Hand, drehte sich um und hielt eine Hand vor den Mund: »Marthe? Hier ist Suzanne. Ich bin gerade in der Sainte-Eulalie-de-la-Rédemption. Hast du irgendwas, das ich noch anbringen könnte?«
Zuckersüß.
Ein paar Seiten weiter drehte sich ein Herr um, als er hörte, wie sie vor sich hinlachte. Dabei war es nichts: eine dicke Frau, die sich an einen Konditor wandte, der mitten in der Arbeit steckte. Er hatte eine Bäckermütze auf dem Kopf, sah leicht frustriert aus und hatte einen charmanten Kugelbauch. Die Frau sagte: »Das Leben ist weitergegangen. Ich habe wieder geheiratet. Aber vergessen konnte ich dich nie, Roberto.« Und sie trug einen Hut in Kuchenform, eine Art Sahnetorte, die exakt so aussah wie die Torten, die der Konditor gerade zubereitete.
Es war fast nichts, zwei, drei Tuschestriche, und doch sah man sie mit den Wimpern klimpern, mit nostalgischer Sehnsucht und der grausamen Nonchalance derer, die sich noch begehrt wissen. Kleine Ava Gardner vom Lande, kleine Femme fatale mit Haartönung.
Sechs winzige Striche, mehr nicht. Wie machte er das?

Camille legte das Wunderwerk wieder weg und kam zu dem Schluß, daß die Welt zweigeteilt war: in diejenigen, die Sempés Zeichnungen verstanden, und jene, die sie nicht verstanden. So naiv und rigoros sie auch scheinen mochte, sie hielt die Theorie durchaus für haltbar. Zum Beispiel kannte sie eine Person, die sich jedesmal, wenn sie in einem Paris-Match blätterte und eine dieser kleinen Szenen entdeckte, regelrecht lächerlich machte: »Ich weiß wirklich nicht, was daran witzig sein soll. Es muß mir mal jemand erklären, wann man hier lachen soll.« Sie hatte kein Glück, diese Person war ihre Mutter. Nein, sie hatte kein Glück.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.11.2005