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Frauen zeigen wieder ihr Gesicht
Monira Rahman erhält den Menschenrechtspreis amnesty internationals -ĂŠEinsatz für Säureopfer in Bangladesch
Selbst für bangladeschische Verhältnisse kam dieser Heiratsantrag viel zu früh. Schließlich war Nasima damals, im Sommer 1992, gerade erst elf Jahre alt. Der Bewerber, ihr eigener Onkel und Nachbar in der Siedlung am Rande der Stadt Brahmanbaria, zählte dagegen 27. Nasima lehnte ab, und ebenso taten es ihre Eltern. Schließlich war das Mädchen doch, seit sie denken konnte, einem ihrer Cousins versprochen. Der Onkel, ein Bruder ihres Vaters, reagierte, als wäre er auf die schlimmstmögliche Weise beleidigt worden. Er drohte, das Gesicht Nasimas zu zerstören. Von Säureattentaten hatte die Familie noch nichts gehört. Trotzdem nahm die Familie das Mädchen zur Vorsicht von der Schule.
Es nützte nichts. Der Täter kam mitten in der Nacht. Es war ein heißer Sommertag am 2. September 1992, dem Hochzeitstag eines Cousins mütterlicherseits. Das Haus war voller Gäste. Das Fenster zu dem Zimmer, in dem Nasima schlief, stand offen. Dort stieg der Onkel zusammen mit einem Freund ein. Er fackelte nicht lange. Als er die Säure gegen Nasima schleuderte, verätzte er sich nebenbei selbst.
Das Mädchen schrie auf. Die Säure brannte wie Feuer. Nichts, was die Familie herbeischaffen konnte, wollte die Schmerzen lindern. Das Krankenhaus in Brahmanbaria sah sich außer Stande, zu helfen. Mit dem Boot brachte man das Mädchen zunächst nach Narsingdi und dann mit dem Taxi weiter in die Hauptstadt Dhaka. Im dortigen Medical College gab es damals acht Behandlungsbetten für Verbrennungsopfer - die einzigen in einem Land, das immerhin 140 Millionen Einwohner zählt. Es war schon früher Morgen, als die Familie dort mit Nasima eintraf.
Nasima, wurde gerettet. Viele andere Opfer von Säureattentaten starben Anfang der neunziger Jahre, bevor sie einen Arzt sahen. Auch das Personal im Dhaka Medical College versuchte eigentlich nur, die Schmerzen zu lindern. Das arme südasiatische Land hatte keine Erfahrungen mit plastischer Chirurgie. Trotz vier Operationen traut sich Nasima auch heute noch nur mit Gesichtsschleier und dicker Sonnenbrille in die Öffentlichkeit.
»Dass ich mich überhaupt traue«, sagt sie, »liegt an meinem Mann und an Monira Rahman«. Ihr Mann, das ist der Cousin, dem sie von Kindheit an versprochen war und der sie gegen den Willen seiner eigenen Eltern trotz des Attentats geheiratet hat. Monira Rahman, das ist die Gründerin und Geschäftsführerin der »Acid Survivors Foundation« (ASF) in Dhaka.
Begonnen hat alles vier Jahre nach dem Säureanschlag auf Nasima. Als Mitarbeiterin der Frauenrechtsorganisation Nari Pokkho arbeitete die heute 40-jährige Monira Rahman an einer Bestandsaufnahme bangladeschischer Krankenhäuser. Ziel war es, die Zustände und schwerwiegendsten Defizite für Patientinnen aufzudecken. Dabei kam sie erstmals in Kontakt mit Säureopfern. Ihr Bericht schockierte die Direktorinnen der Organisation. Man hatte Säureanschläge in Bangladesch, wenn überhaupt, bis dahin nur als extreme Einzelfälle wahrgenommen. Nun organisierte Nari Pokkho einen Workshop mit neun Überlebenden, darunter Nasima. Ziel war es, Informationen über ihre Lage und die Umstände der Tat zu erhalten. Eine anschließende Pressekonferenz stieß bei den Journalisten des Landes allerdings auf keine große Resonanz.
Mehr Erfolg hatten Monira Rahman und Nari Pokkho beim britischen Fernsehsender BBC. Dessen Berichte über die Lage der Säure-Überlebenden veranlasste spanische Ärzte, einige Frauen zur Behandlung in ihre Krankenhäuser einzuladen. Gleichzeitig beauftragte die britische Botschaft den gerade in den Ruhestand verabschiedeten Lehrer John Morrison mit einer Studie. Das Schicksal eines 17-jährigen Mädchens, das zum Zeitpunkt des Anschlags schwanger gewesen war, erschütterte Morrison besonders. Nach seinem Bericht, für den er natürlich mit Monira zusammen arbeitete, fanden sich in England genug Sponsoren, die einen Transport und die Behandlung in einem britischen Krankenhaus finanzierten. Eine andere Spendenaktion führte dazu, dass im März 2000 einige Säureopfer erstmals auch nach Deutschland reisten, wo sie von Mainzer Ärzten operiert wurden.
Morrison und Rahman erkannten jedoch, dass es wichtiger und sinnvoller ist, den Frauen direkt in Bangladesch zu helfen. Unterstützt von UNICEF gründeten sie 1998 die Organisation »Helping Acid Survivors«. Im November 1999 wurde eine 20-Betten-Station im Dhaka Medical College für die Überlebenden von Säureattentaten eröffnet. Aber obwohl auch eine kanadische Hilfsorganisation ein bisschen Unterstützung anbot, reichte das Geld anfangs kaum für die medizinische Hilfe und Ernährung von einer Handvoll Frauen.
Von Anfang an vertraten Monira Rahman und Morrison die Auffassung, dass es nicht ausreicht, die Opfer medizinisch zu behandeln. Mindestens ebenso wichtig für die Heilung und für die Wiedereingliederung in die Gesellschaft ist die psychotherapeutische Behandlung.
Außerdem setzte sich Monira Rahman zum Ziel, eine breite Öffentlichkeit in Bangladesch gegen dieses Verbrechen zu mobilisieren. Die Politiker weigerten sich zunächst, das Problem überhaupt als solches wahrzunehmen. Es handle sich nur um Einzelfälle, die ausgenutzt würden, um das Bild Bangladeschs im Ausland zu entstellen.
Um dies zu widerlegen, sammelte Monira Rahman Daten über die Zahl der Anschläge, die Opfer, die Motive und das weitere Schicksal der Attentäter. Danach wollte niemand mehr die Brisanz und Tragweite leugnen, und die Foundation konnte Unterstützer für ihre beiden wichtigsten politischen Forderungen anwerben: Erstens müssten die Säureattentäter strafrechtlich verfolgt und bestraft werden. Und zweitens sollte der Säureverkauf geregelt werden. In Bangladesch kann Schwefelsäure, wie sie etwa in Autobatterien eingesetzt wird, relativ frei fast an jeder Straßenecke erworben werden. Im Jahr 2002 griff die Regierung einen Teil der Forderungen auf, und das Parlament verabschiedete den »Acid Crime Control Act«.
Allerdings nützt das schärfste Gesetz nichts, wenn korrupte Polizisten die Täter entkommen lassen. Oder wenn die Familie des Opfers die Polizei gar nicht erst einschaltet. Besonders in den Fällen, in denen der Täter aus der Verwandtschaft oder der Nachbarschaft kommt, regeln die Familien die Sache gern über den Kopf des Opfers hinweg unter sich. Mitunter »verurteilen« sie den Täter dazu, die Überlebende zu heiraten. Was dies für Frau bedeutet, kann man sich vorstellen.
Monira Rahman schätzt, dass es nur bei einem von zehn Säureattentaten in Bangladesch tatsächlich zu einem Gerichtsverfahren kommt. Damit fehlt dem Gesetz die abschreckende Wirkung. ASF unterstützt deshalb die Frauen während der Gerichtsprozesse. Zugleich hilft sie ihnen, beruflich und privat eine neue Existenz aufzubauen. Insbesondere in den nicht seltenen Fällen, in denen die Opfer zusätzlich von ihren Familien verstoßen werden, bilden die von ASF betreuten Opfer inzwischen ein Netzwerk, das neue Überlebende auffängt und zumindest ihre psychische Not lindert. Denn so wie vor noch nicht allzu langer Zeit in Europa Vergewaltigungsopfer nicht selten für die Tat mitverantwortlich gemacht wurden, so müssen sich in Bangladesch heute noch manche Überlebende eines Säureattentats vorwerfen lassen, sie wären wohl nicht züchtig genug aufgetreten oder hätten dem Täter »schöne Augen gemacht«.
Nasima blieb wenigstens von solchen Vorwürfen verschont. Und vor dem Täter, ihrem Onkel, braucht sie auch keine Angst mehr zu haben. Er starb fünf Jahre nach dem Attentat in der Haft an einem Herzinfarkt. Dass er aber überhaupt gefangen genommen wurde, ist nicht das Verdienst der Polizei. Weil die Beamten die Ermittlungen im Gegenteil verzögerten, griff eine Gruppe Jugendlicher aus Brahmanbaria zur »Selbsthilfe«. Sie fasste den Onkel, erzwang sein Geständnis und überstellte ihn dann der Polizei. Bernhard Hertlein

Artikel vom 12.11.2005