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Wort zur Reformation

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Der gerade am Reformationstag gern zitierte Satz »Ecclesia semper reformanda« - Die Kirche muß ständig reformiert werden - stammt mit Sicherheit nicht von Martin Luther. Ihm selbst ging es weniger um Reformen als vielmehr um die Reformation - eine Rückbesinnung auf das Zentrum des Glaubens und, daraus folgend, die Rückformung der Kirche gemäß ihrer biblischen Grundlegung. Bloße Reformen, wußte er, bleiben oft nur in Äußerlichkeiten stecken, bei institutionellen und strukturellen Fragen nämlich. Sie dringen aber nur selten bis zur Substanz vor, dem Inhalt und Kern des Glaubens. Daher verpuffen sie meistens ohne nachhaltige Wirkungen.
Luther dagegen wollte zur Sache des Evangeliums zurückrufen, dazu, worauf es entscheidend ankommt. Das aber wurde ihm deutlich, als er beim Apostel Paulus auf zwei gegensätzliche Lebensmodelle stieß. Diese waren ihm so gegensätzlich wie Feuer und Wasser und durften deshalb um Himmels Willen nicht miteinander vermischt werden.
Beim ersten Modell - Luther selbst hatte es im Kloster mit aller Konsequenz praktiziert - leitet der Mensch alles, worauf es ankommt, aus seinen eigenen »Werken« ab, aus dem also, was er selber tut, zustandebringt und erreicht. Davon, so hatte er gemeint, hänge sein Wert, seine Würde, ja sein Daseinsrecht in Zeit und Ewigkeit ab. Denn damit Gott einen Menschen überhaupt akzeptieren oder sogar lieben könne, müsse sich dieser ihm erst als hinlänglich akzeptabel und liebenswert erweisen. Anderenfalls ernte er von Gott nichts als Zorn und Verdammnis. Luther hatte mit allem Ernst so gelebt, bis es ihn in tiefe Depressionen und tödliche Verzweiflung stürzte. Doch eben darin war er ein ganz Großer. Denn er blieb nicht auf halbem Wege stehen, sondern durchdachte und durchlitt dieses Modell bis zu seinem Ende, um dann davon erlöst zu werden.
Andere, könnte man meinen, haben es damit leichter und geraten nicht in solche Gewissensqualen. Doch stimmt das so? Hat ein Leben aus den »Werken« nicht zumindest die Tendenz, einen depressiv zu machen? Auch dem Erfolgreichen ist sein Erfolg kein Dauergast. Auch der Vitalste spürt irgendwann, daß jede Vitalität einmal nachläßt. Auch der Frömmste ist nicht nur reinen Herzens. Woraus aber besteht das Ganze des Lebens? Doch nicht nur aus dem, worauf einer stolz sein kann. Was geschieht mit den Minuspunkten? Nur schönfärben, sich nur mildernde Umstände dafür zubilligen, andere und anderes dafür verantwortlich machen, totschweigen? Geht das auf die Dauer?
Erlösung fand Luther, indem er im Römerbrief des Apostels Paulus ein anderes Lebensmodell entdeckte: Ich darf mich verstehen und ableiten, aus dem, was ich empfange. Empfangen geht allem Tun voraus. Ich empfange mein Leben von Gott und mit ihm zugleich, ohne eigenen Beitrag, meinen Wert und meine Würde. Die aber kann mir niemand nehmen, nicht einmal ich selbst. Menschliche Würde kann nämlich immer nur eine geglaubte, nie eine nachgewiesene Würde sein. Ich kann glauben, daß Gott mich von Anfang an liebt und mich nicht zu lieben aufhört, obwohl ich ihm dafür genug Gründe liefere.
Denn dafür, daß Gott mich liebt, muß ich nicht selber einstehen; dafür steht Jesus Christus ein. Ich bin auch nicht der Sinnstifter meines Lebens und brauche ebensowenig mein eigener Richter zu sein. Ich lebe aus der Gnade. Gottes Gnade aber erschließt sich nur im Glauben. So kann aus einem Menschen, der meint, sich selbst alles zurechnen und verdanken zu müssen, jemand werden, der dankbar ist. Depression löst sich auf in Leichtigkeit. Alles bekommt ein anderes Gesicht.
Durch das Evangelium von der Gnade Gottes, die in Jesus Christus erschienen ist, hatten sich für Luther - das schreibt er noch am Ende seines Lebens - gleichsam die Pforten des Paradieses weit geöffnet. Das war für ihn der entscheidende Angelpunkt, ohne den die gesamte Reformation nicht zu begreifen ist.

Artikel vom 31.10.2005