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Wütende Proteste gegen die Rentenpläne von Union und SPD

Merkel betont: »Noch nichtbeschlossen« - Kritik bei den Gewerkschaften

Von Klaus Blume und Günther Voss
Berlin (dpa). Mit ihrer Ankündigung, die Deutschen in absehbarer Zeit bis zur vollen Rente länger arbeiten zu lassen, haben Union und SPD bei Gewerkschaften, Sozialverbänden und linker Opposition wütende Proteste ausgelöst.

Die designierte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erläuterte am Freitag noch einmal, die mögliche Erhöhung des gesetzlichen Renten-Eintrittsalters werde keinen treffen, der heute bereits älter als 35 Jahre sei. Eine schrittweise Erhöhung von 65 auf 67 Jahre werde frühestens Jahrgänge von 1970 an angehen. »Das ist eine weit in die Zukunft reichende Aufgabe, die nichts, aber auch gar nichts, mit der aktuellen Situation zu tun hat.« Außerdem gebe es bei den Koalitionsverhandlungen auch noch keinerlei Beschlüsse.
Merkel verwies auch auf die Möglichkeit, bei einer Gesetzesänderung die verschiedene Arbeitsbelastung in den unterschiedlichen Berufsgruppen zu berücksichtigen. »Ob einer sein Leben lang auf dem Bau gearbeitet hat oder als Physiker Grundlagenforschung gemacht hat, das ist ein Unterschied.« Man könne eine Neuregelung beispielsweise auch mit der Dauer der Beitragszahlungen von 45 Jahren verknüpfen.
Aber selbst wenn der Schritt, das gesetzliche Renteneintrittsalter über die aktuelle Grenze von 65 auf 67 Jahre anzuheben, aktuell gar nicht ansteht und das Ziel voraussichtlich erst im Jahr 2035 erreicht wird: Die Botschaft sorgte prompt für Verunsicherung und Besorgnis. Von »Sozialabbau« und »versteckter Rentenkürzung« ist die Rede.
Die Kritik an den Rentenplänen wird auch durch die immer noch angespannte Arbeitsmarktlage angeheizt. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, hatte erst in dieser Woche gewarnt, dass etliche große Unternehmen die Freistellung von Mitarbeitern kurz vor Erreichen des Rentenalters angekündigt hätten.
Zwar gibt es dazu bisher keine konkreten Zahlen, und die Arbeitslosigkeit dürfte auch ohne Massenentlassungen wegen des saisonalen Effekts im Winter wieder die Fünf-Millionen-Marke brechen. Doch bei den Gewerkschaften bleibt die Furcht, dass künftig noch mehr ältere Arbeitslose mit schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt noch länger auf ihre Rente warten müssen.
Dabei besteht kein Zweifel darüber, dass der Rentenplan geeignet ist, die Umlagen finanzierte Rentenversicherung auf lange Sicht wieder zu stabilisieren. Ohne Gegensteuern würde das System bei einer weiter wachsenden Zahl von Rentnern und immer längeren Rentenbezugszeiten bei einer gleichzeitig schrumpfenden Zahl von Beitragszahlern kollabieren. Will man die Beitragszahler nicht immer wieder durch Anhebung der Rentenbeiträge in Anspruch nehmen - was erklärtes Ziel von SPD und Union ist -, müssen die Ausgaben begrenzt werden. Eine Möglichkeit ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit.
Doch was nützt eine längere Lebensarbeitszeit, wenn es gar keine Arbeit gibt - fragen sich die Kritiker des Planes. Nach Ansicht der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Ursula Engelen-Kefer sollte erst einmal dafür gesorgt werden, »dass die Menschen bis zum gesetzlichen Rentenalter unter humanen Bedingungen im Erwerbsleben verbleiben können«. Linkspartei-Fraktionschef Gregor Gysi kritisierte, dass Arbeitslose schon ab 50 Jahren heute schwer zu vermitteln seien.
Doch das könnte sich ändern. Die Bevölkerung nimmt ab. Damit folgt Deutschland der negativen Entwicklung in vielen EU-Ländern. Um die Bevölkerung stabil zu halten, müsste eine Frau im gebärfähigen Alter statistisch gesehen 2,1 Kinder zur Welt bringen. Tatsächlich liegt diese Rate aber nur bei 1,3.
Bleibt es dabei, werden 2050 nur noch 54 Millionen (heute 82,5 Millionen) Menschen in Deutschland leben. Der Bevölkerungsaufbau wird immer ungünstiger. Der Anteil der jungen Menschen nimmt ab, während der Anteil der alten Menschen stetig steigt.
Der immer stärker wirkende demographische Faktor hat zwei Folgen: Er entlastet bei anhaltender Arbeitslosigkeit zunehmend den Arbeitsmarkt, weil immer weniger nach einer Beschäftigung suchen. Längerfristig erwarten die Experten auch einen Mangel an Fachkräften.

Artikel vom 29.10.2005