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Kinder sammeln Äpfel
am Allerheiligentag

Kurioser Brauch hat sich nur in Versmold erhalten

Von Dietmar Kemper
Versmold (WB). Am katholischen Feiertag Allerheiligen sammeln Kinder in der protestantischen Kleinstadt Versmold (Kreis Gütersloh) Äpfel, Birnen und Nüsse. Das gibt es in Deutschland nirgends sonst.
Versmolds Stadtarchivar Richard Sautmann.

»Der Brauch hat sich nur in der Kernstadt erhalten, nicht in den Ortsteilen«, sagte Richard Sautmann dieser Zeitung. Der Stadtarchivar hat die Ursprünge des seltsamen Brauchs in der 21 000 Einwohner zählenden Kommune erforscht. Morgen Abend ist es wieder so weit: Dann ziehen Jungen und Mädchen los, um Obst und Süßigkeiten zu sammeln. »Geschäftsleute kommen eigens in ihre Läden und machen das Licht an, damit die Kinder wissen, wo sie etwas bekommen«, berichtet Sautmann. Der Brauch ist als »Oller Hilgesmann« bekannt. Die Kinder sagen ein plattdeutsches Gedicht auf, in dem sie um Äpfel, Birnen und Nüsse bitten.
Beim »Oller Hilgesmann« handele es sich um eine Erinnerung an das katholische »Ollerhilgen«. An Allerheiligen und Allerseelen gedenken Katholiken ihrer Verstorbenen und schmücken deren Gräber mit Blumen und Lichtern. Sautmann erklärt: »Nach altem christlichen Volksglauben, der, so heißt es in einem Kommentar des Erzbistums Köln, auch in evangelischen Gebieten noch lange eine Rolle gespielt haben soll, stiegen die armen Seelen an Allerseelen aus dem Fegefeuer auf, um für kurze Zeit von ihren Qualen auszuruhen. An vielen Orten fand dann eine Prozession der Gläubigen zum Friedhof statt, um dort der Verstorbenen zu gedenken.«
Zum Wohle der armen Seelen hätten die Kinder an diesem Tag um Lebensmittel wie Getreide, Mehl, Schmalz, Obst, Geld oder Brot gebeten. Der Stadtarchivar erläutert: »Allem Anschein nach hat sich im Oller Hilgesmann das Bruchstück eines alten vorreformatorischen Brauches bewahrt, ohne dass seine Wurzeln noch im Bewusstsein geblieben wären.«
Die Gabe von Süßigkeiten und Naschwerk habe den evangelischen Kindern ein Privileg der katholischen Jugend erhalten. Während der Umzug der Kinder heute nur noch ein kurioser Brauch ist, trieb in früheren Jahrhunderten bittere Not die Jungen und Mädchen auf die Straße.
In der alten Leineweberstadt Versmold seien viele Menschen von der Garnspinnerei abhängig gewesen, erläutert Sautmann. Einer breiten Schicht armer Leute hätten wenige reiche Kaufleute gegenübergestanden. »Die Kinder griffen den Brauch auf, um für sich bei besser gestellten Familien eine Gabe zu bekommen«, fasst der Archivar zusammen. Es sei nicht wie heute um Süßigkeiten gegangen, sondern um Kalorien und Vitamine.
Umgekehrt habe aber auch die wohlhabende Oberschicht den Brauch gern aufgenommen: »An Oller Hilgesmann hat das Almosenspenden ein religiöses Kleid übergestülpt bekommen.« Die Kinder hätten damals genau gewusst, wo sie Äpfel, Birnen und Nüsse bekommen konnten. Dementsprechend steuerte der Zug die Häuser an der Berliner-, Münster-, Ravensberger- und Wiesenstraße an. Morgen machen die Kaufleute das Licht in ihren Geschäften an, damit die Jungen und Mädchen wissen, wo sie hin müssen.

Artikel vom 31.10.2005