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Hans-Jochen Vogel

»Krieg und Tod sind nicht die letzte Antwort. Der Wille zur Versöhnung ist stärker.«

Leitartikel
Frauenkirche

Neugeboren aus dem Feuersturm


Von Reinhard Brockmann
Ein schönes Stück deutscher Leitkultur ohne Wenn und Aber: Der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche findet an diesem Sonntag seine Vollendung. Mit der Einweihung des Gotteshauses wird aus dem Symbol des Untergangs im Feuersturm eine glanzvolle Neugeburt. Eben: »Renaissance« im wahrsten Sinne dieses schönsten aller französischen Worte, das in ganz Europa verstanden wird.
Die Sachsen, die Deutschen, die Weltbürger: Sie alle haben mitgewirkt und eine großartige Spendenleistung erbracht. Sie beschenken uns mit einem architektonischen Glanzstück, das Stein, Musik und Seele in einem ist. Stolz auf diesen prachtvollen Ausdruck bürgerschaftlichen Engagements ist erlaubt.
Eine Nation, die sich über Neoliberalismus, Hartz IV und Egomania zerstreitet, mitunter sogar fast rachsüchtig über einander herziehen kann, sie wird jetzt einen Augenblick innehalten. Wenn an diesem Sonntag die Feierstunde aus Dresden via ZDF - dem Papst-Segen urbi et orbi gleich - in die deutschen Wohnstuben Einlass findet, dann ereilt uns ein Versöhnungsangebot, wie es nur abendländisch-christliche Kultur auszusenden versteht.
Dresdens wiederaufgebaute Frauenkirche ist nicht alles. Paderborner Bürger haben - nur ein Beispiel - in vielen Jahren den kriegszerstörten Barockaltar ihrer Marktkirche wieder aufgebaut, und in Berlin wartet mit dem Stadtschloss-Projekt eine nächste Herkules-Aufgabe - nicht nur auf die Kultur- und Geschichtsbeflissenen in diesem schönen Lande.
Lange galt der »Spruch der Geschichte«, wonach Kriegszerstörung die Rekonstruktion des einmal Verlorenen verbat. »Wiederaufbau? - seelisch unmöglich!« Otto Bartnings Ausruf wurde nach der Niederlage von 1945 zum geflügelten Wort. Ausführlicher formulierte der Publizist Walter Dirks seinen »Mut zum Abschied« im Streit um das zerstörte Frankfurter Goethehaus: »Es gibt Zusammenhänge zwischen dem Geist des Goethehauses und dem Schicksal seiner Vernichtung. Wäre das Volk der Dichter und Denker nicht vom Geist Goethes abgefallen, so hätte es diesen Krieg nicht unternommen und diese Zerstörung nicht provoziert.«
Weitere Streitobjekte eines letztlich fruchtbaren Ringens waren auch die Frankfurter Paulskirche und die Alte Pinakothek in München. All diese Herrlichkeiten sind heute in ihrer Neuform wirkmächtigere Kultur- und Traditionsträger des nationalen Erbes als jeder Neubau oder jede noch so raffinierte museumspädagogische Installation.
Niemand - auch das ZDF nicht - kann am kommenden Sonntag Johann Sebastian Bach noch einmal die Orgel in der Frauenkirche spielen lassen. Aber auch sein authentisches Zeugnis am historischen Ort lässt mit jeder Facette die Deutschen ein kleines Stück Identität unmittelbar spüren. Es ist erbauend, in Zeiten der Defizite und Schuldenrekorde zu wissen, wie reich an geistigen Gütern wir immer noch sind.

Artikel vom 26.10.2005