28.10.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Die linke Maus ist erkrankt und kann nicht mehr »greifen«. Die Maus im Vordergrund ist durch Einführung eines funktionsfähigen Gens geheilt.

»Stau« in den Zellen sorgt für Muskellähmung

Bielefelder Wissenschaftler: Vom Mäusemodell zu Therapieansätzen bei menschlicher ALS


Bielefeld (WB/sas). Wobbler-Mäuse (»wobbler« ist Englisch und steht für »Wackler«) kennen die Wissenschaftler seit Jahrzehnten: Es sind Nager, die an einer fortschreitenden, von Zittern begleiteten Muskellähmung leiden - Symptome, die der menschlichen Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) ähneln. Wissenschaftler - darunter Forscher der Universität Bielefeld - haben nun entdeckt, dass ein verändertes Gen bei der Krankheit eine Rolle spielt.
Das Gen, dessen Mutation bei der Wobbler-Maus den unaufhaltsamen Verlust von Nervenzellen verursacht, spielt bei Transport und Verteilung von Stoffen in der Zelle eine Rolle. Führt man nun ein voll funktionsfähiges Gen ein, ist die kranke Maus geheilt, haben Wissenschaftler aus Bielefeld, Ann Arbor (Michigan, USA) und Braunschweig entdeckt.
Seit 25 Jahren erforscht Prof. Dr. Harald Jockusch, Uni Bielefeld, Muskelkrankheiten bei Maus und Mensch, nutzt das Tiermodell, um ALS zu erklären. »Die Ursache für die tödlich verlaufende Krankheit ist das Absterben der großen motorischen Nervenzellen im Rückenmark. Sie kontrollieren die Muskeln des Bewegungsapparates.« Weil die Symptome der Wobbler-Mäuse denen von ALS-Kranken entsprechen, werden an ihnen auch Therapien gegen das Absterben von Nervenzellen getestet. Welches Gen aber defekt und damit »schuldig« war, war unbekannt.
Das Team um Jockusch und Dr. Thomas Schmitt-John, inzwischen Professor an der Universität Aarhus, Dänemark, hat nun gezeigt, dass das Gen mit dem schönen Namen Vps54 das mutierte ist. Was schief läuft, erläutert Schmitt-John: »Im Inneren der Körperzellen spielt sich ein reger Containertransport ab.« Die Container sind mikroskopisch kleine Membranbläschen (Vesikel), die ihre Ladung an die richtige Adresse bringen müssen. Dafür, dass das klappt, sorgen Erkennungsmoleküle, die »Vesicular protein sorting factors«, kurz Vps. Ihr Bauplan ist im Gen VPS54 abgelegt. Ist dieses nun defekt, finden die Erkennungsmoleküle ihr Ziel nicht, es kommt in den Zellen zu einem Stau.
Warum der wiederum zu einer Nervenschädigung führt, ist noch nicht klar. »Vermutlich sind Nervenzellen gegen Störungen der Stoffverteilung ganz besonders empfindlich, weil sie ständig Signalstoffe austauschen«, erläutert der Braunschweiger Projektpartner Dr. Andreas Lengeling. Hoffen lässt die Forscher, dass die Einführung eines funktionierenden Vps54-Gens die Mäuse heilt. »Für die Menschen könnte dies die Möglichkeit neuer Therapieansätze bringen.« Die Forschungsergebnisse sind veröffentlicht in Nature Genetics online 2005.

Artikel vom 28.10.2005