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»Krallen statt Samtpfoten zeigen«

Sozialpolitiker Norbert Blüm sieht Abenddämmerung der Neoliberalen

Bielefeld (WB). Ex-Bundesminister Norbert Blüm (70/CDU) wird am Freitag bei der Verleihung des Regine-Hildebrandt-Preises in Bielefeld die Festrede halten. Die Stiftung »Solidarität bei Arbeitslosigkeit und Armut« hat Heiner Geißler (CDU) und Ottmar Schreiner (SPD) als Preisträger nominiert. Mit Norbert Blüm sprach Reinhard Brockmann über Soziallehre und Neoliberalismus.Norbert Blüm (70), Arbeits- und Sozialminister von 1982 bis 1998.

Der Regine-Hildebrandt-Preis geht an Heiner Geißler (CDU) und Ottmar Schreiner (SPD). Was zeichnet sie gemeinsam aus?Blüm: Dass sie mit Herzblut Politik machen und nicht ferngesteuerte Apparatschiks sind.

Sie übernehmen die Festrede - weil die Sozialpolitik auf dem Rückzug ist?Blüm: Das halte ich für eine vorübergehende Erscheinung. Dem Neoliberalimus gehört nicht die Zukunft. Die, die sich als neoliberale Vorreiter fühlen, werden schon übermorgen als Nachzügler wach werden. Das geht schneller, als selbst ich geglaubt habe. Ein Indiz für alle, die es noch nicht wussten: Für Neoliberalismus gibt es bei keiner Bundestagswahl eine Mehrheit.

Haben sie das Ergebnis vom 18. September erwartet?Blüm: Ich bin kein Wahlforscher, aber soviel weiß ich: Den Menschen ist ein Gerechtigkeitsgefühl angeboren - ganz unakademisch. Das Gespür sagt, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln. Die Kopfpauschale aber behandelt alle gleich und die Einheitssteuer balbiert auch alle über einen Steuersatz. Das widerspricht einem Gerechtigkeitsgefühl, das durch keine Partei außer Kraft gesetzt werden kann.

Karl-Josef Laumann bestreitet, dass die CDU noch Volkspartei ist. Sind die christlich-sozialen Wurzeln wirklich ausradiert?Blüm: Ja, die Sozialausschüsse sind in Gefahr, sich zu einer nostalgischen Gruppe zurück zu entwickeln. Das hat die christliche Soziallehre nicht verdient.

Was raten Sie Horst Seehofer und Karl-Josef Laumann?Blüm: Sozialausschüsse mit Krallen - mit Samtpfoten ist da nichts zu machen. Im übrigen hat die christliche Soziallehre schon viele Stürme überlebt. Ich stelle eine weltweite Abenddämmerung des Neoliberalismus fest. Die Leute lassen es sich nicht gefallen, dass die Globalisierung zu weltweitem olympischen Wettstreit darum wird, wer am günstigsten produziert, der gewinnt. Dann müssten wir ja die Kinderarbeit wieder einführen.

Was empfehlen Sie der Union zur Wurzelpflege?Blüm: Die soziale Marktwirtschaft ist das Produkt aus christlicher Soziallehre und Ordoliberalität. Die christliche Soziallehre hat Solidarität und Subsidiarität eingebracht, das heißt: Vorfahrt für die kleineren Kreise: Familie, Tarifpartnerschaft, Selbstverwaltung, Föderalismus. Die Ordoliberalen haben den Wert geordneter Marktwirtschaft eingebracht, nicht einer wildgewordenen. Für Ludwig Erhard war das Wort »Sozial« nichts Dekoratives, sondern Bestandteil einer Wirtschafts- und Sozialordnung.

Sind christdemokratische Arbeitnehmer in einer großen Koalition besser aufgehoben als in einer schwarz-gelben?Blüm: Ich bin kein geborener Anhänger der Großen Koalition, weil es im Gegenzug nur eine kleine Opposition gibt. Dennoch müssen die beiden das Wahlergebnis umsetzen und sich daran erinnern, dass sie vor allem die Arbeitslosigkeit beseitigen müssen.

Franz Müntefering auf Ihrem alten Stuhl: Was kann er erreichen, was sollte er lassen?Blüm: Mich freut wirklich, dass das alte Arbeits- und Sozialministerium wieder entsteht. Es war eine Fehlkonstruktion, die Arbeit einfach der Wirtschaft zuzuschlagen. Zu Müntefering: Seine Schule war das Leben und das ist für Sozialpolitik gut. Das Sozialministerium muss immer den Blick für das Ganze und eine hohe Sensibilität für die Schwächeren haben.

Artikel vom 25.10.2005