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Kein Zentrum, nur eine Schleuse

Der Jahnplatz in den 50er Jahren - Dritter und letzter Teil der Serie

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Als nach dem Bombenhagel des Weltkriegs der Wiederaufbau begann, hätte man sich auch für den schwer zerstörten Jahnplatz ein grundlegend neues Konzept überlegen können. Statt dessen wurde Stück für Stück gewerkelt. Und der Tunnel kam!

»Hell wie der lichte Tag« sollte es werden, verhieß in den 50ern eine Reklame am Mertenshaus, aber in den Birnen der Stadtplaner leuchtete selten ein Fünkchen auf. Commerzbank: Bankgeschäfte in Ruinen. Hettlage (später »Madame«): Neubau mit schwarzem Putz (!), nach Protesten mit vorgehängter Marmor- und Metallfassade. Haus der Technik und das Nebenhaus mit dem »Café Europa«: stilistisch unverändert. Mertens: erst hergerichtet, dann (1953) von der Stadt zwecks Platzverbreiterung gekauft. Ein Zeitungsleser ahnte da bereits: »Eines nicht mehr fernen Tages werden sich die Bielefelder verwundert die Augen reiben, wenn sich das Mertenshaus in eine Staubwolke hüllt und empfiehlt.« 1955 war es soweit.
Kurz: Man werkelte ohne Konzept vor sich hin. Die »Löwen- Apotheke« im Eck zwischen Herforder und Wilhelmstraße, eine der wenigen Institutionen am Jahnplatz, die heute noch existiert erhielt eine erschreckend phantasielose Fassade; beim letzten Umbau verschwand auch der Löwe über dem Eingang, der das Haus dezent geschmückt hatte.
Statt sich um architektonische Grandezza zu bemühen und den Jahnplatz als geschlossenes Ensemble zu begreifen, beugten sich die Planer über eine Statistik. Ludwig Erhardt hatte das Wirtschaftswunder noch nicht richtig angekurbelt, da war der Autoverkehr bereits lawinenartig angeschwollen: 1952 zählte man auf dem Jahnplatz 19 000 Motorfahrzeuge. Welche Wonne, hätte man die alle unterirdisch fahren lassen.
Doch lieber schickte Bielefeld den Fußgänger nach unten. Als Artur Ladebeck am 19. Juli 1957 die »Spinne« eröffnete, war der Jahnplatz wohl zum letzten Mal schwarz von Menschen. Die Feiern überdeckten eine hitzig geführte Diskussion, in der die Gräben nicht nur zwischen Planungsexperten und Bürgern verliefen, sondern alle beteiligten Gruppierungen spalteten.
Aus ganz Deutschland reisten Ingenieure und Verkehrsspezialisten an die Baustelle, um das langsam Gestalt annehmende Wunderwerk in Augenschein zu nehmen. »Schnell zu verwirklichen, zweckmäßig und erschwinglich« sei die Maßnahme, befand ein Baurat 1956. »Der Mensch muss im Vordergrund stehen! Wie kommt der Fußgänger dazu, wegen des Motors solche Umwege zu machen?«, fragte ein empörter WESTFALEN-BLATT-Leser.
Niemand jedoch konnte letztlich ernsthaft bestreiten, dass die Bielefelder Lösung -Ê eine Pioniertat in der noch jungen Bundesrepublik -Ê den Mitteln der damaligen Zeit entsprach. Die wahren Bausünden beging man oberhalb der Asphaltdecke, wo sie bis auf den heutigen Tag zu besichtigen sind. Statt des warmen Sandsteins abweisendes Glas und Beton, wohin man blickt, Bunkeratmosphäre unter Haltestellendächern, beliebig buntes Blinken aus Schaufenster-Kleinklein.
Reinhard Vogelsang, ehemaliger Leiter des Stadtarchivs und Chronist der Entwicklung, ist nicht der einzige, der die Herabstufung des Jahnplatzes zur »Verkehrsschleuse« betrauert. Und Turnvater Jahn, dessen Büste seit 1992 im Jahnplatz-Forum versteckt wird, kämen die Tränen . . .

Artikel vom 22.10.2005