21.10.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Der weltweit anerkannte Virologe Albert Osterhaus

»Der größte
Bioterrroist
ist die Natur selbst.«

Leitartikel
Die Grippe

Bloß nicht die Nerven verlieren


Von Reinhard Brockmann
»Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker«: Dieser Rat war wohl noch nie so wertvoll wie in diesen verwirrenden und dabei doch völlig grippefreien Tagen.
Im Gegensatz zu den Medizinern stecken die Medien in einer Zwickmühle zwischen möglichst umfassender Information und der Gefahr, Panik zu verbreiten, wo fachlicher Rat und überlegtes Handeln geboten sind.
Wer jetzt jedenfalls seinem Hausarzt die Pistole auf die Brust setzt und verlangt, sofort und auf der Stelle »gegen Vogelgrippe« geimpft zu werden, hat so ziemlich alles falsch verstanden.
Noch gibt es nicht einmal das geringste Anzeichen einer »normalen« Grippewelle. Dennoch ist die allen schmerzlich und bestens bekannte Influenza schlimm genug. In jedem Jahr erkranken zehn Prozent aller Erwachsenen und ein Drittel aller Kinder an Grippe. In Nordamerika, Europa und Japan werden Jahr um Jahr 100 Millionen Grippefälle registriert. Todesraten sind weit, weit höher als bei »Sars« oder der jetzt aufkommenden Vogelgrippe.
Die aus Asien auf Europa und Afrika vorrückende Tierkrankheit hat sich bisher noch nicht so weit entwickelt, dass sie von einem Menschen auf den anderen überspringen kann. Nur wer intensivsten Tier-Kontakt hat, ist gefährdet. Ein Mensch muss schon ein erkranktes Huhn unter dem Mantel tragen, um sich anzustecken, sagen die Praktiker, um zu beruhigen. Es geht also keineswegs um bereits bestehende Bedrohungen, sondern einzig und allein um in der Zukunft mögliche katastrophale Weiterungen - die allerdings sehr ernst zu nehmen sind.
Vor diesem Hintergrund sind die Vorsorgemaßnahmen der Behörden zu sehen. Seit langem warnen Gesundheitsexperten vor einer Neuauflage der verheerenden Grippewelle von 1918. Aus der damals zwei Milliarden zählenden Weltbevölkerung starben 25 bis 40 Millionen Menschen an der »spanischen Grippe«.
Die Katastrophe eines veränderten und damit nicht zu bekämpfenden Virus kann sich noch diesen Winter wiederholen - oder erst in 50 Jahren. Wir alle müssen die Nerven bewahren angesichts vieler in den kommenden Wochen noch zu erwartender verunsichernder Nachrichten.
Es ist nur ein Frage der Zeit, bis an Vogelgrippe erkrankte Tiere auch in Deutschland gefunden werden. Es ist relativ sicher, dass es in diesem Winter nicht nur feucht und nass wird, sondern auch die üblichen Erkrankungen eintreten. Außerdem: Die geplanten Katastrophenübungen mit aufwendigen Computersimulationen und unangekündigten Epidemie-Erklärungen werden zur Verunsicherung weiter beitragen.
Geradezu paradox erscheint, dass die überhöhte Vogelgrippen-Furcht der lange unterschätzten »normalen« Grippegefahr endlich die notwendige Aufmerksamkeit beschert. Der weltweit anerkannte Virologe Albert Osterhaus weiß: »Der größte Bioterrorist ist die Natur selbst.« Wir erleben gerade, dass diese Erkenntis jetzt auch jenseits der Elfenbeintürme greift.

Artikel vom 21.10.2005