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Die christlich-sozialen Wurzeln gekappt oder nur übersehen?

CDU-interne Debatte um den verpassten Wahlsieg hat schon begonnen

Von Reinhard Brockmann
Berlin (WB). Obwohl Angela Merkel und die CDU-Führung noch auf der Bremse stehen, hat die gefürchtete Debatte über Fehler im Wahlkampf begonnen.

Die Union sei »in vielen Regionen Deutschlands keine Volkspartei mehr«, weil sie ihre christlich-soziale Wurzel »ausradiert« habe, sagte der Vorsitzende der CDU/CSU-Sozialausschüsse Karl-Josef Laumann. Es müsse verhindert werden, dass die Union noch einmal so an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbeirede.
Am Wochenende wird die Junge Union auf Bundesebene mit der Fehleranalyse beginnen. Die JU-Basis sei sehr unzufrieden, heißt es auch in den drei westfälischen Bezirksverbänden (14 000 Mitglieder). »Wir haben in den letzten zwei Jahren die Hauptlast von vier Wahlkämpfen getragen und den Reformkurs immer offensiv unterstützt. Nun müssen unsere Mitglieder tatenlos zusehen, wie ein zentraler Standpunkt nach dem anderen aufgegeben wird«, sagte Bezirkschef Christoph-F. Sieker aus Hiddenhausen (Kreis Herford). Es sei nicht mehr zu vermitteln, dass ein »notorischer Querulant« wie Horst Seehofer, der sich um Mehrheitsmeinungen in einer demokratischen Partei einen Dreck schere, als Dank für sein Verhalten auch noch mit einem Ministerposten belohnt werde, während »die besten Pferde« der Union wie der Finanzexperte Friedrich Merz »im Stall gelassen« würden.
Führende CDU-Politiker aus Ostwestfalen schalteten sich ebenfalls in die Debatte ein, ohne jedoch Laumanns Position gutzuheißen. »Für Sozialromantik ist es jetzt zu spät«, sagte Jürgen Herrmann, Bundestagsabgeordneter aus dem Kreis Höxter. Leider sei im Wahlkampf zu wenig deutlich geworden, dass man Arbeitnehmern wegen der schwierigen Finanzlage auch etwas zumuten könne, da andererseits ausgewogene Konzepte geboten wurden. Wie in seinem alten Beruf als Polizeibeamter sei nach der Wahlschlappe eine »vernünftige Einsatznachbereitung zur Vermeidung neuer Fehler« erforderlich.
Der Landtagsabgeordnete Wolfgang Aßbrock, Kreis Herford, will dagegen sofort in die Debatte einsteigen. Im Wahlkampf habe es gravierende Fehler gegeben. Schonungslos und ohne Ansehen von Personen müsse das diskutiert werden. Mit dem Streit um das Steuerkonzept von Professor Paul Kirchhof, den Aßbrock nach wie vor für hoch honorig hält, sei der Partei »alles aus der Hand geschlagen worden«.
CDA-Mann Laumann liegt aus Aßbrocks Sicht nur bedingt richtig. Natürlich dürfe man die Partei nicht ihrer Wurzeln berauben. Aber von Ausradieren könne keine Rede sein. Aßbrock bedauert, dass finanzielle Spielräume für eine bessere »Wurzelpflege« nicht mehr vorhanden sind.
Die geplante Abschaffung der Steuerfreiheit von Sonn- und Feiertagszuschlägen, der Pendlerpauschale oder die Mehrwertsteuererhöhung hätten in weiten Teilen der Bevölkerung eben doch zu einer gewissen Verunsicherung geführt, gibt Friedhelm Ortgies zu bedenken. Wenig hält der Landtagsabgeordnete aus Minden-Lübbecke von übereilter Selbstkritik. »Die Menschen würden es nicht verstehen, wenn wir uns in dieser wichtigen Phase primär um unsere innerparteilichen Probleme kümmern würden, anstatt die Probleme unseres Landes anzupacken.«
Laumanns rigoroses Wort vom Kappen der christlich-sozialen Wurzeln wird auch von dem Paderborner Abgeordneten Gerhard Wächter nicht geteilt. Ein solches Urteil werde dem im Wahlkampf vorgelegten Regierungsprogramm nicht gerecht. Wächter: »Ich sehe bei der Union vielmehr ein großes Kommunikationsproblem. Wir waren augenscheinlich nicht dazu in der Lage, unsere Konzepte und die sich daraus ergebenden Chancen verständlich zu machen.«
Das Vermittlungsproblem sieht auch CDU-Bezirkschef Elmar Brok: »Wir müssen intensiv über die Zukunft der Volkspartei reden und zwar bei CDU und SPD.« Früher habe die jeweils populärere Partei bei Wahlen über die politische Mitte hinausgegriffen. »Das haben diesmal beide nicht geschafft.« Politik in Zeiten der »One-Liner/Einzeiler im TV« müsse neu überdacht werden. Wenn immer nur ein Satz gesendet werde, seien größere Zusammenhänge unmöglich darzustellen. Der falsche Eindruck einer scheinbar neoliberalen Politik sei so entstanden. Zum Beispiel haben man schon über die Flatrate (einheitlicher Steuersatz für alle) diskutiert, obwohl die gar nicht im CDU-Programm stand.

Artikel vom 20.10.2005