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Schilys Leichtigkeit steckte an

Sitzungsauftakt in lockerer Atmosphäre - Nur Thierse gab sich »elegisch«

Von Thomas Schmoll
Berlin (Reuter). Bei der ersten Bundestagssitzung der neuen Wahlperiode konnte die Nation erleben, dass Politik nicht unbedingt todernst sein muss.

Die Volksvertreter zeigten sich gestern von einer anderen Seite als üblich: Statt Streit gab es kollegiales Miteinander, statt Beschimpfungen freundliche Worte, statt nur Ernst auch Heiterkeit. Die Rede des Alterspräsidenten Otto Schily wirkte anfangs wie seine Bewerbung für einen Wechsel in die Unterhaltungsbranche. Keine Spur von Trotz, weil er nicht weiter Innenminister sein kann. Im Gegenteil präsentierte sich der 73-jährige Sozialdemokrat als feinsinniger Humorist mit Hang zur Selbstironie. Während er als Minister mit bissigen Kommentaren oftmals Parlamentarier der Opposition und mitunter auch der rot-grünen Koalition verärgerte, sorgte er nun für Lachsalven in allen Reihen. »Darf ich fragen, ob es ein Mitglied dieses Hauses gibt, dass mich an Alter übertrifft«, fragte Schily unter Gelächter. Da sich niemand meldete, fuhr er mit der Begrüßung der Anwesenden fort, darunter die Neulinge im Bundestag. Besonders hieß Schily ein »junges Nachwuchstalent der FDP« willkommen, nämlich seinen Bruder Konrad, der mit seinen 67 Jahren »eine hoffnungsvolle politische Karriere beginnt«. Schily beendete seinen Ausflug ins Persönliche mit den Worten: »So viel zu meiner ungewohnten Herzlichkeit.«
Dann wurde er ganz Politiker. Er erinnerte den neu zusammengesetzten Bundestag an Grundregeln der Demokratie. »Das Volk hat die unbequeme Angewohnheit, Regierungen abzuwählen.« Das sei »für die künftige Regierung eine Warnung und die künftige Opposition eine Hoffnung«.
Schily war längst nicht der Einzige, der sich gut gelaunt zeigte. »Ich bin eben mit Ihnen verwechselt worden«, sagte der parlamentarische SPD-Fraktionsgeschäftsführer Olaf Scholz zu dem angehenden Agrarminister Horst Seehofer beim Warten auf den Fahrstuhl. Der CSU-Politiker reagierte sichtlich amüsiert und sagte: »Die Gefahr ist groß.« Scholz ist etwa 20 Zentimeter kleiner als Seehofer.
Der bisherige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) machte dagegen ganz auf Staatsmann. Er sei elegisch gestimmt, sagte er einem Kamerateam.
Der scheidende Bundeskanzler Gerhard Schröder, der noch am selben Tag seine Entlassungsurkunde von Bundespräsident Horst Köhler entgegennehmen sollte, schwatzte gleich nach seinem Eintritt in den Plenarsaal mit dem CDU-Finanzexperten Friedrich Merz. Schröder lächelte dabei unentwegt. Beide, Merz und Schröder, haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind nicht unbedingt gut zu sprechen auf Angela Merkel.
Die designierte Kanzlerin schüttelte als erstes SPD-Chef Franz Müntefering die Hand. Er soll Vize-Kanzler werden. Müntefering schwatzte wiederum mit CSU-Chef Edmund Stoiber. Der Ex-Vorsitzende der Sozialdemokraten, Oskar Lafontaine, der für die Linkspartei im Parlament sitzt, wurde entgegen mancher Erwartung nicht von SPD-Abgeordneten geschnitten.
Der künftige SPD-Fraktionschef Peter Struck plauderte während der Wahl des Bundestagspräsidenten minutenlang mit Lafontaine, der nach seinem Rücktritt als Finanzminister im Frühjahr 1999 Schröders Reformpolitik anprangert hatte. Am Ende des Gesprächs gaben sich Struck und Lafontaine die Hand. An der Sitzordnung des Parlaments wie auch an Äußerungen von Politikern war das neue politische Zeitalter ablesbar.
So saß der bisherige Außenminister Joschka Fischer ganz hinten auf der Bank der Grünen-Abgeordneten. Scholz begann seine Rede mit einem Satz, der wohl künftig öfter zu hören sein wird: »Ich stimme den Ausführungen des Kollegen von der CDU/CSU voll inhaltlich zu.«

Artikel vom 19.10.2005