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Talleyrand

»Da geht mein Volk, ich muss ihm hinterher.«

Leitartikel
Gewichtsverlagerung

Bundestag wird wichtiger


Von Jürgen Liminski
Die Mannschaft steht, auf das Programm muss man noch warten. Dieses nicht ganz unwichtige Detail zeigt an, wie sehr sich die Politik gewandelt hat. Erst die Posten, dann die Sache.
Es ist zwar nicht schick und auch politisch unkorrekt, in dieser schwierigen Situation Skepsis zu zeigen - man wird eher gefeiert, wenn man sich optimistisch und vorwärtsstrebend gibt -, aber das bisherige Ergebnis der Annäherung zwischen den beiden früheren Volksparteien und die ersten programmatischen Aussagen müssen bei vielen Unionsanhängern Magengrimmen erzeugen.
Hat man dafür gekämpft, dass die SPD über 75 Prozent des Budgets verfügt und damit de facto die Gestaltungsmacht in dieser Regierung besitzt? Was nutzt eine Kanzlerschaft, wenn die Richtungskompetenz eingemauert ist, personell von den Parteien, in der Sache von der Angst vor dem Wähler? »Da geht mein Volk, ich muss ihm hinterher«, soll Talleyrand einmal gerufen haben. Jetzt läuft eine Regierung hinter dem vermeintlich reformscheuen Wahlvolk her.
Die SPD wird keine Reform wagen, die noch mehr Wähler in die Arme der neokommunistischen Linkspartei treibt. Dafür wird Sozial- und Arbeitsminister Franz Müntefering schon sorgen. Auch in der Union selbst wird Genosse Hasenfuß die Geschwindigkeit bei den Reformbemühungen vorgeben. Immerhin stehen im März drei Landtagswahlen an. Also wird man behutsam Subventionen nach der Rasenmäher-Methode kürzen und die kostenfreie Einigung bei der Föderalismus-Reform als historischen Meilenstein der Republik feiern. Vielleicht gelingt auch noch eine kleine Windung bei den Stellschrauben der Steuerpolitik. Ansonsten ist Sparen angesagt, aber bitte nicht zu hart. So allerdings wird Deutschland kaum in Schwung kommen können.
Angesichts eingebauter Blockaden in der neuen Regierung wird der Reformimpuls von woanders her kommen müssen. Dafür wären zwei legislative Kraftzentren in der Lage, Bundesrat und Bundestag. Im Bundesrat werden die Impulse jedoch nach ähnlichen Machtkriterien gesteuert wie in der Großen Koalition, starke Impulse dürfte es kaum geben. Paradoxerweise könnte also das Parlament trotz der großen Mehrheit für die Regierung zu einem Hort der Reformideen und -diskussionen werden. Eine politische Gewichtsverlagerung steht bevor.
Die kleine FDP hat bereits angekündigt, die große Koalition vor sich hertreiben zu wollen, und die Grünen werden ihr, befreit von regierungsinternen Rücksichtnahmen, kaum nachstehen. Nur geringe Impulse, eher Bremsmanöver sind von der sozialstaatlich eigentlich reaktionären Linkspartei zu erwarten. Auf jeden Fall wird der nächste Bundestag interessanter und spannender. Wie lange der Bürger das Theater paradox bestaunen wird, ist ungewiss. Noch geht es ihm zu gut. Aber die Kassen sind leer, und der Reformbedarf wächst. Je früher der Bürger merkt, dass er nicht Zuschauer und Statist, sondern das Opfer der misslichen Lage ist, desto eher wird der Druck auf wirkliche Entscheidungen wachsen.

Artikel vom 20.10.2005