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Der uns das Leben lehrt

Neue Ära des Tanzes eingeleitet

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Diese Welle wird man so schnell nicht wieder vergessen: Donnernd kracht sie als meterhohe Wand zusammen. Hunderte blauer Bierkästen ergießen sich in Sekundenschnelle über die Spielfläche und kommen haarscharf vor den ersten Publikumsreihen zum Stehen. Voilà: Gregor Zölligs Tanztheater ist in Bielefeld angekommen.

Der spektakuläre Zusammenbruch beschwört für einen Moment noch einmal die Bilder der Tsunami-Katastrophe herauf und lässt die zerstörerische Kraft fast physisch spürbar werden. Berühren wolle er mit seinen Produktionen, hatte Bielefelds neuer Tanztheaterleiter im Vorfeld verkündet, und wahrlich: Was Zöllig und sein zehnköpfiges Ensemble zum Auftakt des Theaterfestivals 360รป im Theaterlabor präsentieren, rührt an und geht unter die Haut. Nicht immer geht der Choreograf dabei so kraftvoll brutal zu Werke wie in »Crash«, seiner neuesten Kreation, bei der Tänzer und Tänzerinnen orientierungslos, verwundet und verstört durch die Trümmerlandschaft streifen und ihre Wunden lecken. Mit psychologischem Tiefgang sezieren Zöllig und sein Ausstattungs-Dramaturgen-Team, welche Auswirkungen Katastrophen und Krisen gleich welcher Art beim Individuum hinterlassen. Sie verlassen sich dabei nicht allein auf die Ausdruckskraft der Körpersprache, sondern nutzen die gesamte Bandbreite bühnenbezogener Darstellungsformen: Sprache, Gesang, Schauspiel, Videoeinspielungen fließen mit ein und generieren ein stimmiges Gesamtkunstwerk.
Und Zöllig kann noch mehr: Er führt eindrucksvoll vor, dass modernes Tanztheater in der Lage ist, gesellschaftliche Wirklichkeiten zu durchdringen, und zwar ganz bodenständig, verständlich und ohne intellektuelle Überfrachtung. Ideengeber für seine Tanzgeschichten ist das alltägliche Leben. Die Hektik des Alltags, die Forderung nach mehr Effizienz und Produktivität etwa bringt er in »Speedless« in temporeichem Akkord auf die Bühne. Passend zur fließbandähnlichen Bewegungschoreografie hämmert Steve Reichs mechanische Minimalmusik und zucken im Hintergrund die Zacken der Herzschrift über die Leinwand. Keulen bis zur Nulllinie bringt auch das großartige Ensemble an die Grenzen des physisch machbaren.
Dazwischen darf beim humorvollen Blick auf Schuhfetischisten auch herzhaft gelacht werden. Das »Schuhstück« komplettierte den Reigen, mit dem am Theater Bielefeld unter dem Titel »Gestern werde ich das Morgen für heute bestimmen« eine neue Ära des Tanztheaters eingeleitet wurde. Mehr davon!

Artikel vom 17.10.2005