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Mmm.«
»Die Postkarten?«
»Ja.«
»Geht das noch lange?«
»Pardon?«
»Warum machen Sie hieraus nicht Ihren Beruf? Warum versuchen Sie nicht, Historiker oder Lehrer zu werden? Es stünde Ihnen dann zu, sich während der Arbeitszeit in all diese Bücher zu versenken, Sie würden sogar dafür bezahlt!«
Er legte sein Buch auf die abgewetzte Cordhose über seinen knöchernen Knien und setzte die Brille ab, um sich die Augen zu reiben:
»Ich habe es versucht. Ich habe ein Staatsexamen in Geschichte und habe dreimal an der Aufnahmeprüfung für die ƒcole des Chartes teilgenommen, aber ich bin jedesmal durchgefallen.«
»Waren Sie nicht gut genug?«
»Doch, doch! Das heißt«, er errötete, »das heißt, ich glaube schon. Ich glaube es in aller Bescheidenheit, aber ich... Ich habe noch nie ein Examen bestanden. Ich habe zuviel Angst. Ich leide jedesmal an Schlafmangel, verliere das Augenlicht, die Haare, sogar die Zähne! Und mein ganzes Wissen. Ich lese die Aufgaben, ich weiß die Antworten, aber ich bin außerstande, eine Zeile zu schreiben. Ich sitze wie versteinert vor meinem Blatt.«
»Aber Sie haben doch Ihr Abitur? Und Ihr Staatsexamen?«
»Ja, aber zu welchem Preis. Und niemals beim ersten Anlauf. Und dabei war es ziemlich leicht. Mein Staatsexamen habe ich erhalten, ohne je einen Fuß in die Sorbonne gesetzt zu haben, es sei denn, um die Vorlesungen der großen Professoren zu hören, die ich bewundert habe und die mit meinem Studienplan nichts zu tun hatten.«
»Wie alt sind Sie?«
»Sechsunddreißig.«
»Aber mit einem Staatsexamen hätten Sie damals doch unterrichten können, oder?«
»Können Sie sich vorstellen, wie ich vor dreißig Kindern stehe?«
»Ja.«
»Nein. Allein die Vorstellung, mich an eine Zuhörerschaft zu wenden, und sei sie noch so klein, läßt mich in kalten Schweiß ausbrechen. Ich... Ich habe Probleme mit der... der Gemeinschaft, glaube ich.«
»Aber in der Schule? Als Sie klein waren?«
»Ich bin erst ab der fünften Klasse zur Schule gegangen. Noch dazu in ein Internat. Es war ein schreckliches Jahr. Das schlimmste in meinem ganzen Leben. Als hätte man mich in ein tiefes Becken geworfen, ohne daß ich schwimmen kann.«
»Und dann?«
»Nichts dann. Ich kann noch immer nicht schwimmen.«
»Im wörtlichen Sinne oder im übertragenen?«
»Beides, Herr General.«
»Man hat Ihnen nie das Schwimmen beigebracht?«
»Nein. Was soll ich damit?«
»Eh... schwimmen.«
»Kulturell gesehen entspringen wir eher einer Generation von Infanteristen und Artilleristen, wissen Sie?«
»Was faseln Sie da? Ich rede nicht von einer Schlacht! Ich rede vom Meer! Und überhaupt, warum sind Sie eigentlich nicht früher in die Schule gegangen?«
»Meine Mutter hat uns unterrichtet.«
»Wie bei Ludwig dem Heiligen?«
»Genau.«
»Wie hieß sie noch mal?«
»Blanca von Kastilien.«
»Ach ja. Und warum? Haben Sie so weit außerhalb gewohnt?«
»In unserem Nachbardorf gab es durchaus eine staatliche Schule, aber dort bin ich nur ein paar Tage geblieben.«
»Warum?«
»Weil sie staatlich war, ganz einfach.«
»Aha! Die alte Geschichte von den Blauen, richtig?«
»Richtig.«
»Aber das war vor mehr als zwei Jahrhunderten! Einiges hat sich seitdem weiterentwickelt!«
»Verändert, zweifellos... weiterentwickelt? Da... da bin ich mir nicht so sicher.«
»...«
»Sind Sie schockiert?«
»Nein, nein, ich respektiere Ihre... Ihre...«
»Meine Werte?«
»Ja, wenn Sie so wollen, wenn Ihnen dieses Wort genehm ist, aber wovon leben Sie dann?«
»Ich verkaufe Postkarten!«
»Das ist doch verrückt. Total bescheuert.«
»Wissen Sie, im Vergleich zu meinen Eltern habe ich mich sehr... weiterentwickelt, wie Sie es nennen, ich habe mich immerhin von manchem distanziert. «
»Und wie sind Ihre Eltern?«
»Nun.«
»Ausgestopft? Einbalsamiert? Fest verschraubt in einem Glas mit Formalin und Lilienblüten?«
»Ein wenig trifft das zu, in der Tat«, sagte er belustigt.
»Sie bewegen sich doch aber nicht in einer Sänfte!«
»Nein, aber das liegt daran, daß sie keine Träger mehr finden!«
»Was machen sie?«
»Pardon?«
»Beruflich?«
»Sie sind Grundbesitzer.«
»Ist das alles?«
»Das ist viel Arbeit, wissen Sie?«
»Aber hm... Sind Sie sehr reich?«
»Nein. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil.«
»Unglaublich, diese Geschichte. Und wie haben Sie das Internat überstanden?«
»Dank Gaffiot.«
»Wer ist das?«
»Das ist niemand, das ist ein sehr voluminöses Lateinwörterbuch, das in meinem Schulranzen steckte, der mir als Schleuder diente. Ich habe meine Tasche am Riemen gepackt, damit Schwung geholt und... Tätätätä! Den Feind zur Strecke gebracht.«
»Und weiter?«
»Wie weiter?«
»Heute?«
»Na ja, meine Liebe, heute ist es ganz einfach, Sie sehen vor sich ein herausragendes Exemplar des homo degeneraris, das heißt ein Wesen, welches für das Leben in einer Gesellschaft völlig ungeeignet ist, deplaziert, skurril und vollkommen anachronistisch!«
Er lachte.
»Wie soll es weitergehen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sind Sie in Therapie?«
»Nein, aber ich habe bei der Arbeit eine junge Frau kennengelernt, eine ulkige, spinnerte Verrückte, die mir ständig in den Ohren liegt, daß ich sie einmal zu ihrem Schauspielunterricht begleiten soll. Sie hat alle möglichen und denkbaren Therapeuten abgeklappert und behauptet, das Theater sei immer noch die beste Therapie.«
»Tatsächlich?«
»Sagt sie.«
»Aber sonst gehen Sie nie aus? Sie haben keine Freunde? Keine Vertrauten? Keine... Kontakte zum einundzwanzigsten Jahrhundert?«
»Nein. Nicht wirklich. Und Sie?«

5. Kapitel
Das Leben nahm also wieder seinen Lauf. Camille trotzte der Kälte bei Einbruch der Dunkelheit, nahm die Metro in entgegengesetzter Richtung zur arbeitenden Masse und betrachtete die erschöpften Gesichter.
Die Mamas, die mit offenem Mund vor dem beschlagenen Fenster schliefen, bevor sie ihre Kleinen in den eintönigen Vororten der 7. Zone der Pariser Verkehrsbetriebe abholten, die Frauen, mit billigem Modeschmuck behangen, die gleichgültig in ihrer Fernsehzeitschrift blätterten und ihre zu spitzen Zeigefinger mit Spucke befeuchteten, die Männer in weichen Mokassins und bunt gemusterten Socken, die laut seufzend zweifelhafte Geschäftsberichte studierten, und die Nachwuchskräfte der Führungsetage mit fettiger Haut, die sich die Zeit damit vertrieben, mit ihren auf Ratenzahlung gekauften Handys Unsummen auf den Kopf zu hauen.
Und all die anderen, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich instinktiv an die Eisenstangen zu klammern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Diejenigen, die nichts und niemanden sahen. Weder die weihnachtliche Reklame - goldene Tage, goldene Geschenke, Lachs umsonst und Gänseleber zu Großhandelspreisen - noch die Zeitung des Nachbarn, noch die Nervensäge mit ausgestreckter Hand und näselndem Gejammer, tausendmal heruntergeleiert, noch die junge Frau gegenüber, die ihre trübsinnigen Blicke und die Knitterfalten ihrer grauen Überzieher auf Papier bannte.

Anschließend wechselte sie zwei, drei belanglose Worte mit dem Wachmann des Bürokomplexes, zog sich um, hielt sich dabei an ihrem Wägelchen fest, streifte eine unförmige Trainingshose über, einen türkisfarbenen Nylonkittel, Profis für Sie im Einsatz, und wärmte sich langsam auf, indem sie wie besessen schuftete, bevor sie erneut fröstelte, zum x-ten Mal eine Zigarette rauchte und die letzte Metro nahm.

Als sie Camille sah, stopfte Super Josy die Fäuste noch tiefer in die Taschen und warf ihr ein verkniffenes Lächeln zu, das beinahe zärtlich war.
»So ein Mist... Eine Wiederkehrerin. Das kostet mich zehn Euro«, knurrte sie.
»Pardon?«
»Eine Wette mit den Mädels. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie zurückkommen.«
»Warum nicht?«
»Weiß nicht, ich hatte so ein Gefühl. Aber gut, kein Problem, ich werd schon blechen! He ihr, wir haben noch einiges vor uns, los gehtÕs. Bei dem Mistwetter machen sie uns alles dreckig. Man fragt sich, ob diese Leute nie gelernt haben, wozu ein Fußabstreifer gut ist. Seht euch das an, habt ihr die Eingangshalle gesehen?«
Mamadou schlurfte über den Boden:
»Na, du hast ja wohl die Woche geschlafen wie ein Baby, hab ich recht?«
»Woher weißt du das?«
»Deine Haare. Die sind zu schnell gewachsen.«
»Alles in Ordnung bei dir? Du bist nicht so ganz in Form, oder?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.10.2005