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Was ist das?«
»Koriander.«
»Und die kleinen Nudeln, wie heißen die?«
»Japanperlen.«
»Ehrlich? Was für ein schöner Name.«

Er griff nach seiner Jacke und zog kopfschüttelnd die Wohnungstür zu:
Ehrlich? Was für ein schöner Name.
Zu blöd, die Tussi.

3. Kapitel
Camille seufzte, griff abwesend nach dem Teller und dachte an den Einbrecher. Wer hatte das getan? Das Treppenhausgespenst? Ein verirrter Besucher? War er über das Dach gekommen? Würde er wiederkommen? Sollte sie Pierre davon erzählen?

Der Geruch, vielmehr das Aroma dieser Brühe, hielt sie von weiteren Grübeleien ab. Mmm, duftete das herrlich, und sie war fast versucht, sich die Serviette über den Kopf zu legen, um damit zu inhalieren. Was war da nur drin? Es roch ganz eigen. Heiß, nach Fett, goldbraun wie Cadmium. Mit den durchsichtigen Perlen und den smaragdfarbenen Spitzen der Kräuterbeigaben war es wunderschön anzuschauen. Sie saß einige Sekunden regungslos, ehrerbietig da, hielt den Löffel vor sich und nahm dann ganz vorsichtig einen ersten Schluck, es war ziemlich heiß.

Wenn auch kein Kind mehr, war sie im gleichen Zustand wie Marcel Proust: »Gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in ihr vollzog«, und leerte andächtig ihren Teller, die Augen zwischen jedem Löffel geschlossen.

Vielleicht lag es nur daran, daß sie, ohne es zu wissen, am Verhungern gewesen war, oder daran, daß sie seit drei Tagen mit zusammengebissenen Zähnen Philiberts Tütensuppen hinunterschluckte, oder vielleicht auch daran, daß sie weniger geraucht hatte, eines jedenfalls stand fest: Noch nie in ihrem Leben hatte sie mit solchem Vergnügen allein gegessen.
Sie stand auf, um nachzuschauen, ob noch ein Rest im Topf war. Leider nein. Sie leckte ihren Teller leer, damit ihr kein Tropfen entging, schnalzte mit der Zunge, spülte ihr Geschirr und nahm das angebrochene Nudelpäckchen in die Hand. Sie schrieb »Top!« auf Francks Zettel und verteilte ein paar Perlen darauf, dann ging sie wieder ins Bett und fuhr sich mit der Hand über den straffen Bauch.
Dank sei dir, lieber Jesus.

4. Kapitel Von nun an erholte sie sich schnell. Franck sah sie nie, aber sie wußte, wann er da war: Türenklappern, Stereoanlage, Fernseher, lebhafte Telefongespräche, ordinäres Lachen, derbe Flüche, nichts davon war natürlich, das spürte sie. Er war unruhig und erfüllte die Wohnung mit seinem Leben wie ein Hund, der überall hinpinkelt, um sein Revier abzustecken. Manchmal hatte sie große Lust, in ihr Zimmer zurückzukehren, um ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen und niemandem etwas schuldig zu sein. Dann wieder nicht. Dann wieder schüttelte es sie schon beim Gedanken daran, erneut auf dem Boden zu schlafen, die sieben Stockwerke hochsteigen zu müssen und sich am Treppengeländer festzuhalten, um nicht zu fallen.
Es war vertrackt.

Sie wußte nicht mehr, wo sie hingehörte, und außerdem mochte sie Philibert. Warum sollte sie sich ständig geißeln und sich mit zusammengebissenen Zähnen an die Brust schlagen? Ihrer Unabhängigkeit zuliebe? Was für eine Errungenschaft. Sie hatte jahrelang nur dieses Wort im Mund geführt, und was hatte es ihr gebracht? Wo war sie gelandet? In diesem Loch, wo sie die Nachmittage damit verbrachte, eine Zigarette nach der anderen zu rauchen und mit ihrem Schicksal zu hadern? Wie erbärmlich. Es war erbärmlich. Bald war sie siebenundzwanzig und hatte im Leben noch nichts erreicht. Keine Freunde, keine Erinnerungen und auch keine Veranlassung, sich selbst nur die geringste Anerkennung zu zollen. Was war passiert? Warum hatte sie es nicht geschafft, mit ihren Händen zwei oder drei etwas wertvollere Dinge zu umschließen und sie festzuhalten? Warum?


Sie war nachdenklich. Sie war erholt. Und wenn der drollige Kauz ihr etwas vorlas, wenn er leise die Tür schloß und mit den Augen rollte, weil der andere Gangster seine »Zulu-Musik« hörte, lächelte sie ihm zu und entkam einem Moment dem Auge des Orkans.

Sie hatte wieder angefangen zu zeichnen.
Einfach so.
Für nichts. Für sich. Zu ihrem Vergnügen.

Sie hatte ein neues Skizzenheft genommen, ihr letztes, und hatte sich damit angefreundet, indem sie alles in ihrer Umgebung darin festhielt: den Kamin, die Muster der Tapete, den Fensterriegel, das kindische Lachen von Sammy und Scooby Doo, die Bilderrahmen, die Gemälde, die Kamee der Dame und den nüchternen Gehrock des Herrn. Ein Stilleben von ihren Kleidern, bei dem die Gürtelschnalle auf den Boden hing, die Wolken, den Kondensstreifen eines Flugzeugs, die Baumkronen hinter dem schmiedeeisernen Geländer des Balkons und ein Porträt von sich auf dem Bett.
Wegen der schwarzen Flecken auf dem Spiegel und ihrer kurzen Haare sah sie aus wie ein kleiner Junge mit Windpocken.

Sie zeichnete wieder, wo sie ging und stand. Blätterte die Seiten um, ohne darüber nachzudenken, und hielt nur kurz inne, um etwas chinesische Tinte in ein Schälchen zu gießen und ihren Füllfederhalter aufzufüllen. Sie hatte sich seit Jahren nicht so ruhig, so lebendig, so wunderbar lebendig gefühlt.

Was sie jedoch vor allem mochte, war Philiberts Mimik. Er war so von seinen Geschichten gefangen, sein Gesicht wurde plötzlich ganz ausdrucksstark, ganz erregt oder ganz bedrückt (ach! die arme Marie-Antoinette...), so daß sie gebeten hatte, ihn zeichnen zu dürfen.
Natürlich hatte er der Form halber etwas gestammelt, dann aber ganz schnell das Kratzen der Feder vergessen, die über das Papier huschte.
Manchmal hieß es:
Aber Madame dÕƒtampes war keine Liebhaberin von der Art der Madame de Châteaubriant, Bagatellen genügten ihr nicht. Sie träumte vor allem von Gunstbezeugungen für sich und ihre Familie. Nun hatte sie allerdings dreißig Brüder und Schwestern... Mutig ging sie an die Arbeit.
Geschickt verstand sie es, sich ruhige Momente zunutze zu machen, die ihr die Atempausen zwischen zwei Umarmungen gewährten, um dem König, befriedigt und atemlos, die Ernennungen und Beförderungen zu entlocken, die sie wünschte.
Allmählich wurden alle Pisseleus mit wichtigen, gemeinhin kirchlichen Ämtern ausgestattet, weil die Mätresse des Königs »eine Religiöse« war...
Antoine Seguin, ihr Onkel mütterlicherseits, wurde Abt von Fleury-sur-Loire, Bischof von Orléans, Kardinal und schließlich Erzbischof von Toulouse. Charles de Pisseleu, ihr zweiter Bruder, erhielt die Abtei von Bourgueil und das Bistum Condom...

Er blickte auf:
»Condom... Sie müssen zugeben, das klingt spaßig.«

Und Camille beeilte sich, dieses Lächeln festzuhalten, die belustigte Verzückung eines Jungen, der die Geschichte Frankreichs zerpflückte wie andere ein drittklassiges Pornoheft.

Oder aber:

... da die Gefängnisse nicht mehr ausreichten, machte Carrier, allmächtiger Autokrat, von Kollaborateuren umgeben, die ihm in nichts nachstanden, neue Kerker auf und beschlagnahmte Schiffe im Hafen. Alsbald schon wirkte sich der Typhus verheerend auf die vielen tausend Gefangenen aus, die unter erbärmlichen Bedingungen hausten. Da die Guillotine nicht schnell genug war, ordnete der Prokonsul an, Tausende von ihnen zu erschießen, und stellte den Erschießungskommandos ein »Heer von Totengräbern« an die Seite. Als weiterhin Gefangene in die Stadt strömten, erfand er die Methode des Ertränkens.
Brigadegeneral Westermann seinerseits schreibt: »Es gibt keine Vendée mehr, republikanische Bürger. Sie ist tot, unter unseren freien Säbeln mit all ihren Frauen und Kindern gestorben. Ich habe sie in den Sümpfen und den Wäldern von Savenay begraben. Ihren Befehlen folgend habe ich die Kinder unter den Pferdehufen zertrampeln und die Frauen massakrieren lassen, sie werden keine weiteren Schurken mehr gebären. Mir ist kein Gefangener entwischt.«

Und es gab nichts anderes zu zeichnen als einen Schatten auf seinem konzentrierten Gesicht.

»Zeichnen Sie oder lauschen Sie?«
»Ich lausche Ihnen beim Zeichnen.«
»Dieser Westermann hier, dieses Scheusal, der seinem neuen süßen Vaterland mit so viel Eifer gedient hat, tja, stellen Sie sich vor, er wurde einige Monate später mit Danton gefangengenommen und mit ihm enthauptet.«
»Warum?«
»Angeklagt der Feigheit. Er war zu lau...«

Dann wiederum bat er um Erlaubnis, sich auf den Lehnstuhl am Fußende setzen zu dürfen, und beide lasen still für sich.
»Philibert?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.10.2005